Logo Uni Freiburg
Siegel Uni Freiburg

SFB1015 Muße. Teilprojekt R2

„Urbane Muße um 1800. Flanerie in der deutschen Literatur“

Otium Logo SFB1015

Gefördert durch

DFG-Logo MWK-Logo

Quellensammlung

Nachfolgend finden Sie einschlägige Textstellen aus den untersuchten Reise- und Korrespondentenberichten. Diese Textstellen stehen paradigmatisch für die von uns untersuchten Formen urbaner Muße. Sie sind in inhaltlichen Kategorien angeordnet, die verschiedene Aspekte des Themenfeldes in den Blick nehmen und die Vielseitigkeit entsprechender literarischer Manifestationen verdeutlichen.

Durch die Auswahl einer der aufgelisteten Kategorien gelangen Sie zu einem kurzen Text, der in die jeweiligen Themengebiete einführt, sowie zu den einzelnen Textstellen selbst. Die Textstellen sind mit erklärenden und kontextualisierenden Hinweisen sowie weiterführenden bibliographischen Angaben versehen.

Die Darstellung eigener Wahrnehmungen und beobachteter urbaner Lebensformen unterscheidet sich in den betrachteten Texten bisweilen erheblich. Während sich beispielsweise der London und Paris-Korrespondent Friedrich Theophil Winckler für eine optimierte Beobachtung unter die Menschenmenge im Pariser Tivoli mischt, sieht sich August von Kotzebue die kleinen Straßenschauspiele in der französischen Hauptstadt mit gewisser Distanz an. Und so wie Ludwig Börne in seinem literaturgeschichtlich bedeutenden Spaziergang durch das ‚aufgeschlagene Buch‘ Paris sich den kleinen Szenen des städtischen Alltags widmet, nutzt Georg Friedrich Rebmann einzelne Bauten und Straßenzüge, um einen allgemeinen Eindruck von der Metropole zu vermitteln. Die optischen Stadtbilder werden in der Italienischen Reise durch ein akustisches Klangerlebnis in Venedig ergänzt, bei dem sich das Ich ganz in sich selbst versenken kann. Zu dieser erlebnisorientiert ausgerichteten Muße gesellen sich in der Italienischen Reise auch kontemplationsorientierte Ausprägungen. Insbesondere in Rom findet der Protagonist durch intensives, repetitives und iteratives Betrachten von Kunstwerken zu der Haltung einer gelassenen Teilnahme und damit zu einem ‚neuen‘ Sehen in Muße. In welcher Art und Weise die Beobachterfiguren ihre Streifzüge durch die Großstädte unternehmen, kann sich folglich in ganz unterschiedlichen Formen gestalten. Gemeinsam ist diesen Wahrnehmungsformen jedoch eines: Die Berichterstatter und Reisenden lassen sich jeweils auf kontingente Eindrücke des urbanen Lebens ein; sie sind nicht gezwungen, von einem Ort zum nächsten zu eilen, sondern verfügen über die nötige zeitliche Freiheit, sich den Raum anzueignen. Diese Freiheit liegt auch dann vor, wenn sie zwar bestimmte Orte gezielt ansteuern, dabei aber nicht zeitlich eingeschränkt und funktional ausgerichtet tätig werden müssen. Sie schildern vielmehr Erfahrungen von Muße, innerhalb derer zwar bestimmt bleibt, in welchem raumzeitlichen Rahmen sich die Beobachterfiguren bewegen, jedoch unbestimmt, was sie dabei erleben und wahrnehmen.

Brüggemann, Heinz, „Aber schickt keinen Poeten nach London!“ Großstadt und literarische Wahrnehmung im 18. und 19. Jahrhundert. Texte und Interpretationen (Rororo, Bd. 7928. Kulturen und Ideen), Reinbek b. Hamburg 1985.
Hauser, Susanne, Der Blick auf die Stadt. Semiotische Untersuchungen zur literarischen Wahrnehmung bis 1910 (Reihe Historische Anthropologie, Bd. 12), Berlin 1990.
Neumeyer, Harald, Der Flaneur. Konzeption der Moderne (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 252), Würzburg 1999.

Die Kategorie ‚Bilder einer Großstadt‘ verweist auf die Frage, wie die Beobachterfiguren einzelne Orte in den Städten – und damit oft verbunden, den Gesamtcharakter der Metropolen – wiedergeben. Teils orientieren sie sich an einem überaus wirkmächtigen literarischen Muster, das Louis-Sébastien Mercier mit seinem Tableau de Paris (1782–1788) maßgeblich prägte. Mit dem zwölfbändigen, den moralisch-sittlichen Verfall in der Metropole anklagenden Werk legte Mercier einen Referenztext vor, der gerade im deutschsprachigen Raum intensiv rezipiert wurde und enormen Einfluss auf die Reise- und Großstadtliteratur ausübte, so etwa in Goethes Das Römische Carneval. Merciers Darstellungen der Pariser Stadtkultur zeichnen sich wesentlich durch den Versuch aus, den komplexen Charakter einzelner räumlicher, sozialer und kultureller Verhältnisse in summarischen Kapiteln wiederzugeben und dergestalt die jeweiligen Eigenschaften des Beobachteten vergleichsweise statisch zu (re-)präsentieren. Der Blick in die deutschen Reise- und Korrespondentenberichte zeigt, dass diese literarische Form einerseits eindeutig rezipiert, bisweilen aber auch dezidierten Modifikationen unterworfen wurde. In den Berichten aus London und Paris zeichnet sich demgegenüber bisweilen verstärkt die Wahrnehmungsform eines Panoramas ab: Die Berichterstatter nehmen mehrere Schauplätze auf einmal in den Blick und versuchen, über diese polyperspektivische Betrachtung das Bild der Großstadt zu zeichnen. Während zum Beispiel der London-Korrespondent Johann Christian Hüttner das Merciersche Modell noch stark rezipiert, steht Ernst Moritz Arndts Beschreibung der Pariser Boulevards dem entgegen: Er unternimmt einen, freilich literarisch stilisierten, ganztägigen Rundgang über die Anlagen, um ein möglichst breites Panorama der Erfahrungen zu zeichnen. In Goethes Italienischer Reise verschafft sich der Ich-Erzähler als konzentrierter, intensiver Beobachter mit Vorliebe zunächst von einem Turm aus eine Übersicht über die Städte, die er bereist, um sich so besser orientieren zu können.

Corbineau-Hoffmann, Angelika, „An den Grenzen der Sprache. Zur Wirkungsgeschichte von Merciers „Tableau de Paris“ in Deutschland“, in: Arcadia 27 (1992), 141–161.
Graczyk, Annette, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München 2004.
Kimminich, Eva, „Chaos und Struktur - Schritt und Blick in Louis-Sébastien Merciers Tableau de Paris“, in: Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes/Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 18,3/4 (1994), 263–282.

Die Stadt als Bühne und damit als Ort theatraler Formationen ist ein Motiv, das in den Reise- und Korrespondentenberichten häufig vorkommt. Der öffentliche Raum erscheint in den entsprechenden Textstellen als Kulisse, vor der die Bewohnerinnen und Bewohner der Großstädte in ihren sozialen Rollen agieren und dergestalt den deutschen Beobachterinnen und Beobachtern zahlreiche ‚Schauspiele‘ bieten. Dieser Themenkomplex tritt überdies verstärkt in Verbindung mit der Wahrnehmung und Reflexion nationaler Stereotype auf. Die genaue Ausprägung solcher Muster nimmt unterschiedliche Formen an. Dem Italienreisenden Goethe erscheint insbesondere Venedig als eine große Bühne, auf der sich das öffentliche Leben in auffallend theatralischen Formen darbietet. In der Lagunenstadt durchdringen sich soziales Leben und (Masken-)Spiel. Auch in Neapel nimmt er theatralische Formen wahr, die im Auge des Betrachters ästhetischen Genuss und Lebensgenuss in sich vereinigen. In einem Korrespondentenbericht der Zeitschrift London und Paris über die Wiener Straßen (Wien ersetzte London als Beobachtungsgegenstand während der napoleonischen Kontinentalsperre) wird ersichtlich, wie sich durch verschiedene gesellschaftliche Rollen innerhalb ein und desselben Raumes für die verweilende und unbeteiligte Beobachterinstanz ein Panorama sozialer Verhältnisse ergibt. In den Berichten über die Pariser Boulevards und insbesondere in August von Kotzebues Erinnerungen aus Paris zeigt sich dagegen ein anderes Bild. Gerade Kotzebue – einer der um 1800 populärsten und erfolgreichsten deutschen Bühnenautoren – begreift die Pariser Innenstadt als ein Sammelsurium verschiedenster kleiner Szenen und Schauspiele, die er durch seine von Kontingenz und Offenheit geprägte Wahrnehmung zu erkennen vermag. Ein verbindendes Element sind indes die Beobachterfiguren: Sie bleiben am Geschehen weitgehend unbeteiligt und wirken vielmehr als rein von außen wahrnehmende Instanzen und nicht-teilnehmende Beobachter.

Kleinschmidt, Erich, „Die Ordnung des Begreifens. Zur Bewußtseinsgeschichte urbaner Erfahrung im 18. Jahrhundert“, in: Conrad Wiedemann (Hg.), Rom - Paris - London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen (Germanistische Symposien-Berichtsbände, Bd. 8), Stuttgart 1988, 48–63.
Peitsch, Helmut, „Jakobinische Metaphorik? Deutsche Reisende als „Zuschauer“ der Französischen Revolution“, in: Literatur für Leser 90,4 (1990), 185–201.

Muße verfügt über eine raumzeitliche Struktur, die das Subjekt von unmittelbaren Leistungserwartungen temporär entbindet. Muße eröffnet so einen Freiraum, der auch ein alternatives Zeiterleben ermöglicht. Die ‚Eigenzeit‘ der Muße kann zu einer Intensivierung des Zeiterlebens ebenso führen wie in dieser Präsenzerfahrung zu einem Verblassen des Bewusstseins, dass die Zeit voranschreitet. Die raumzeitliche Entrückung kann dabei als Imagination Arkadiens im urbanen Raum gestaltet sein, so in den Neapel-Abschnitten von Goethes Italienischer Reise, aber auch ganz konkret als Rahmung von Muße-Erfahrungen der Beobachtenden und Beobachteten. Beim Flanieren in Venedig und Neapel intensiviert die Suspendierung temporaler Beschränkungen das Erlebnis des urbanen Raums in seiner räumlichen Disposition. In Rom, der Ewigen Stadt, gewinnt die Raum-Zeit-Struktur der urbanen Erfahrung eine kulturgeschichtliche Komponente, wird hier doch historische Zeit räumlich synchronisiert und in dieser Gleichzeitigkeit auch erfahren. Zeit verdichtet sich im Raum.

Bachtin, Michail M., Chronotopos, übers. v. Michael Dewey (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1879), Frankfurt am Main 2008.
Figal, Günter/Hubert, Hans W./Klinkert, Thomas (Hg.), Die Raumzeitlichkeit der Muße (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße, Bd. 2), Tübingen 2016.

Urbane Rückzugsräume wie öffentliche Gärten, Museen, Galerien oder Buchhandlungen ermöglichen es Beobachterfiguren neben anderem auch, Distanz zu der Geschäftigkeit und zu den Menschenmengen großer Städte und Metropolen zu gewinnen. Sie laden zu zeitentrückten kontemplativen Betrachtungen ebenso ein wie zu ästhetischem Genießen. So stellt es Goethe in der Italienischen Reise immer wieder dar, wenn etwa der Protagonist in einem Buchladen verweilt oder sich in Gärten zum körperlichen und geistigen Flanieren zurückzieht. Berichterstatter wie Ernst Moritz Arndt oder Georg Friedrich Rebmann dagegen betonen beispielsweise, im Pariser Jardin des Plantes könne man inmitten der Stadtgrenzen die erholsame Einsamkeit genießen. Vor allem die ästhetische Qualität einer gezähmten Natur spielt in fast allen Textstellen eine tragende Rolle und verbindet sich – gerade in den Reise- und Korrespondentenberichten aus London und Paris – oftmals mit einer Abgeschiedenheit von urbaner Betriebsamkeit. Obwohl sie teilweise, besonders in den stark frequentierten Londoner und Pariser Rückzugsräumen, nicht zwingend mit einem einsamen Aufenthalt einhergeht, bleiben die geschilderten Schauplätze doch maßgeblich durch einen Charakter bestimmt, der die topischen negativen Stadteigenschaften wie Überfüllung und Hektik ausblendet. Indem sie aber durch diese Kontrastfunktion gleichzeitig auf die Städte zurückverweisen, innerhalb derer sie sich befinden, lassen sie sich als ‚Heterotopien der Muße‘ verstehen: Sie stehen zwar einerseits, Michel Foucaults Begriffs der Heterotopie folgend, scheinbar diametral dem städtischen Alltag gegenüber. Gleichzeitig jedoch bleiben sie an ihren Gegenpol gebunden und entfalten erst vor seiner Folie ihre eigentliche Wirkung.

Foucault, Michel, „Andere Räume“, in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik (Reclam-Bibliothek, Bd. 1352), 3. Aufl., Leipzig 1991, 34–46.
Sennefelder, Anna Karina, Rückzugsorte des Erzählens. Muße als Modus autobiographischer Selbstreflexion (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße, Bd. 7), Tübingen 2018.
Warning, Rainer, Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung, München 2009.

Auf den ersten Blick scheinen urbane Hotspots wie belebte Straßenzüge oder maßlos überfüllte Vergnügungsorte Erfahrungen von Muße zu verhindern. An ihnen zeichnen sich die topischen städtischen Attribute wie Geschäftigkeit, Hektik und – bereits um 1800 – das überbordende Verkehrschaos besonders deutlich ab. Der Blick in einzelne Textstellen zeigt jedoch, dass die Beobachterfiguren auch innerhalb solcher scheinbar wenig mußevollen Umstände entsprechende Erfahrungen schildern. In den Darstellungen kann sich dies sowohl auf die Beobachter selbst als auch auf die Beobachteten beziehen: So notiert beispielsweise Johann Christian Hüttner in London und Paris, das Londoner Vauxhall sei trotz einer beträchtlichen Menschenmenge von wohl 15 000 Menschen einer der beliebtesten Aufenthalte der Stadtbevölkerung. Georg Friedrich Rebmann dagegen beschreibt anlässlich eines politischen Festes, wie ihn inmitten einer feiernden Menschenmenge plötzlich die Erinnerung an frühere Pariser Zeiten überkommen und in einen assoziativen Modus versetzt habe, der ihn vollends aus dem umtriebigen Fest löst. In Neapel findet Goethe, wie er betont, gerade inmitten des größten Trubels Ruhe. Die Beispiele deuten an, dass der transgressive Charakter von Mußeerfahrungen sich unterschiedlich äußern kann. Bisweilen besteht er in einer dezidierten Hinwendung zum betriebsamen urbanen Geschehen, genauso aber kann er auch in einer bewussten oder kontingent auftretenden Abkehr von ihm begründet sein.

Riha, Karl, „Menschen in Massen. Ein spezifisches Großstadtsujet und seine Herausforderung an die Literatur“, in: Tilo Schabert (Hg.), Die Welt der Stadt (Serie Piper, Bd. 1317), München 1990, 117–143.

Die Kategorie einer ‚Heterotopie der Zeit‘ beschreibt maßgeblich eine zum Alltag differente räumliche Wahrnehmung aufgrund einer zeitlichen Abweichung. Gerade in Friedrich Justin Bertuchs London und Paris widmen sich die Beobachterinnen und Beobachter verstärkt dem nicht-alltäglichen Stadtbild, zumeist in Form sonntäglicher Beobachtungen. Die dafür zentralen Textstellen zeigen auf, dass dies bei den Korrespondentinnen und Korrespondenten mit ganz neuen Beobachtungsmöglichkeiten einhergeht. So verweist Johann Christian Hüttner in gleich zwei Berichten darauf, dass sich am wöchentlichen Ruhetag die Welthandelsmetropole London plötzlich durch neue, ansonsten nicht erfahrene Impressionen präsentiere und dem entsprechend gestimmten Beobachter damit ein besonderes Vergnügen bereite. In einem Bericht der London-Korrespondentin Nina d’Aubigny von Engelbrunner zeichnet sich indes eine geschlechtlich konnotierte ‚Heterotopie der Zeit‘ ab: Als einsam spazierende Frau ist sie um 1800 nur frühmorgens in der Lage, über die Londoner Straßen zu schlendern – ein Umstand, der sie aber gerade in eine exponierte Beobachtungsposition versetzt und ihr Eindrücke ermöglicht, die anderen, männlichen Beobachterfiguren verschlossen bleiben.

Pelz, Annegret, „„Ob und wie Frauenzimmer reisen sollen?“ Das „reisende Frauenzimmer“ als eine Entdeckung des 18. Jahrhunderts“, in: Wolfgang Griep (Hg.), Sehen und Beschreiben. Europäische Reisen im 18. und frühen 19. Jahrhundert (Eutiner Forschungen, Bd. 1), Heide 1991, 125–135.
Rösgen, Petra (Hg.), Am siebten Tag. Geschichte des Sonntags, Bonn 2002.
Warning, Rainer, Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung, München 2009.

Das komplexe Verhältnis von Muße, Müßiggang und Arbeit spielt in den deutschen Großstadtberichten um 1800 eine bedeutende Rolle. Die Beobachtung der urbanen Lebensformen, aber auch die eigene Positionierung innerhalb derselben, geht bei den Berichterstatterinnen und Berichterstattern nicht selten damit einher, mußevolle und müßiggängerische Verhaltensmuster der Bewohnerinnen und Bewohner zu reflektieren. Für London und Paris lassen sich dabei vor allem zwei Ebenen identifizieren. Einerseits spielt die sozial-räumliche Dimension eine tragende Rolle. So beschreibt beispielsweise Georg Friedrich Rebmann, in welchem Maß die Pariser Vorstadt St. Antoine durch die entbehrungsvolle Arbeit der Bewohnerinnen und Bewohner geprägt sei, während im Stadtzentrum ‚Müßiggang und Pracht‘ dominierten. Ernst Moritz Arndt geht stärker auf die sozial-zeitliche Dimension ein: Er skizziert, inwiefern gerade die arbeitenden Pariser Oberschichten sich eine klare Tagesaufteilung geschaffen hätten, innerhalb derer sich Zeiten der Arbeit und der Muße diametral gegenüberstehen. Eine kulturspezifisch ausgerichtete Neubestimmung des Verhältnisses von Muße, Müßiggang und Arbeit nimmt Goethe in der Italienischen Reise am Beispiel der neapolitanischen Lazzaroni vor. Der vermeintliche Müßiggang der Lazzaroni entpuppt sich im Auge des Betrachters als eine Form tätiger Muße, bei der sich Arbeit und Lebensgenuss harmonisch ergänzen.

Dobler, Gregor, „Muße und Arbeit“, in: Burkhard Hasebrink/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße im kulturellen Wandel. Semantisierungen, Ähnlichkeiten, Umbesetzungen (Linguae & litterae, Bd. 35), Berlin/Boston 2014, 54–68.
Riedl, Peter Philipp, „Arbeit und Muße. Literarische Inszenierungen eines komplexen Verhältnisses“, in: Hermann Fechtrup/William Hoye/Thomas Sternberg (Hg.), Arbeit - Freizeit - Muße. Über eine labil gewordene Balance. Symposium der Josef Pieper Stiftung (Dokumentationen der Josef-Pieper-Stiftung, Bd. 8), Berlin u.a. 2015, 65–99.

In den Reise- und Korrespondentenberichten aus London und Paris spielt die Beobachtung geselliger urbaner Lebensformen eine tragende Rolle. Strukturell zeichnet sich dabei ab, dass solche kollektiven Erfahrungen mit Momenten der Muße einhergehen können. Nicht selten sind sie überdies in festliche Kontexte eingebunden, durch die sich ein dezidiertes Spannungsfeld ergibt: Während Ereignisse wie der Pariser Karneval oder die Zurschaustellung der eigenen sozialen Position auf den verschiedenen ‚Spaziergängen‘ einerseits funktionalisiert erscheinen, ergeben sich für die Beobachterinnen und Beobachter andererseits transgressive Freiräume der Muße, welche die genannten äußeren Zweckbestimmungen außer Kraft setzen können. Freilich ist zu differenzieren: Während einerseits die individuelle Wahrnehmung der Beobachtenden inmitten der geselligen Gemeinschaft ins Zentrum rückt, finden sich andererseits Textstellen, in denen die Erzählinstanzen den beobachteten Großstädterinnen und Großstädtern kollektive Mußeerfahrungen zuschreiben. So beschreibt beispielsweise Fürst Pückler-Muskau seine eigenen Empfindungen inmitten der Londoner adligen Festkultur, während andererseits die Korrespondenten in London und Paris stark auf die Schilderung der geselligen urbanen Menschenmassen abheben. Nicht immer müssen zudem die beiden genannten Ebenen miteinander im Einklang stehen, sondern können vielmehr auseinanderfallen. Besonders deutlich wird eine solche Differenz in den Berichten Ernst Moritz Arndts, in denen die Wahrnehmung des Reisenden zwischen der Bewunderung französischer urbaner Geselligkeit und der Angst, als rückständiger Deutscher damit nicht konkurrieren zu können, oszilliert.

Assmann, Aleida, „Festen und Fasten. Zur Kulturgeschichte und Krise des bürgerlichen Festes“, in: Walter Haug/Rainer Warning (Hg.), Das Fest (Poetik und Hermeneutik, Bd. 14), München 1989, 227–246.
Grosser, Thomas, „Der lange Abschied von der Revolution. Wahrnehmung und mentalitätsgeschichtliche Verarbeitung der (post-)revolutionären Entwicklungen in den Reiseberichten deutscher Frankreichbesucher 1789-1814/15“, in: Gudrun Gersman/Hubertus Kohle (Hg.), Frankreich 1800. Gesellschaft, Kultur, Mentalitäten, Stuttgart 1990, 161–193.
Paul, Jürgen, „Großstadt und Lebensstil. London und Paris im 19. Jahrhundert“, in: Monika Wagner (Hg.), Moderne Kunst. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst I, Reinbek bei Hamburg 1991, 50–74.
Reinermann, Lothar, „Königliche Schöpfung, bürgerliche Nutzung und das Erholungsbedürfnis der städtischen Unterschichten“, in: Angela Schwarz (Hg.), Der Park in der Metropole. Urbanes Wachstum und städtische Parks im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2005, 19–105.
© 2020 Universität Freiburg