Die Wendung „urbane Muße“ erscheint auf den ersten Blick wie ein Widerspruch in sich, jedenfalls dann, wenn die prominenten geistes- und kulturgeschichtlichen Traditionen in Erinnerung gerufen werden. Seit der Antike wurde Muße in erster Linie jenseits der Betriebsamkeit und Hektik der Städte lokalisiert: auf dem Land, in idyllischer Umgebung, an Rückzugsorten in der Natur. Formen freien Verweilens in der Zeit jenseits zweckrationaler und fremdbestimmter Zwänge – so eine formale Kurzdefinition von Muße – sind jedoch auch inmitten urbaner Geschäftigkeit möglich. Das Flanieren, verstanden als eine Mußepraktik, ist dafür das fraglos sinnfälligste Ausdrucksmuster. Mit Formen urbaner Muße beschäftigte sich während der zweiten Förderphase (2017–2020) des seit 2013 von der DFG geförderten Sonderforschungsbereichs (SFB) 1015 „Muße“ das literaturwissenschaftliche Teilprojekt R2 „Urbane Muße um 1800. Flanerie in der deutschen Literatur“. Geleitet wurde das Teilprojekt von Prof. Dr. Peter Philipp Riedl, der Formen urbaner Muße im Werk Goethes untersuchte. Im Fokus stand hier Goethes literarischer Blick auf italienische Städte, insbesondere Venedig, Rom, Neapel und Palermo, in der Italienischen Reise, den Römischen Elegien und Venezianischen Epigrammen. Aus dieser Forschungsarbeit ist die Monografie Gelassene Teilnahme. Formen urbaner Muße im Werk Goethes entstanden, die 2021 bei Mohr Siebeck in der Otium-Reihe des SFB 1015 erschienen ist. In einem Dissertationsprojekt widmete sich René Waßmer der Frage, wie die um 1800 beiden bedeutendsten europäischen Metropolen, London und Paris, von verschiedenen deutschen Reisenden sowie Korrespondentinnen und Korrespondenten dargestellt wurden. Die Dissertation erscheint 2022 unter dem Titel Muße in der Metropole. Flanerie in der deutschen Publizistik und Reiseliteratur um 1800 ebenfalls in der Otium-Reihe des SFB 1015.
Zentrale Ergebnisse unserer Forschung wollen wir durch diese Homepage einem breiteren öffentlichen Publikum präsentieren. Sie stellt ausgewählte Textstellen vor, die paradigmatisch für die Formen urbaner Muße in den untersuchten Reise- und Korrespondentenberichten stehen. Über zwei Einstiegsmöglichkeiten können die Nutzerinnen und Nutzer auf diese Textstellen zugreifen: Zum einen liegen sie in einer kommentierten Quellensammlung vor, die durch verdichtete inhaltliche Kategorien wesentliche Muster urbaner Muße um 1800 skizziert und sie ausgehend von den ausgesuchten Textpassagen darstellt. Zum anderen besteht die Möglichkeit, über historische Stadt- und Landkarten (London | Paris | Italien) einen topographisch-visuellen Blick dafür zu gewinnen, welche Orte die deutschen Beobachterinnen und Beobachter besonders mit Formen urbaner Muße verbanden. In beiden Fällen erhebt das Projekt bewusst keinen Anspruch auf systematische Vollständigkeit, sondern möchte zentrale gemeinsame Ergebnisse aus der vierjährigen Forschungsarbeit präsentieren. Zusammen mit dem Rechenzentrum und der Universitätsbibliothek der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg haben wir diese digitale Quellensammlung erstellt, die darüber hinaus eine dazugehörige Spezialbibliographie bietet.
Anregungen, Hinweise und Ergänzungen sind herzlich willkommen und können an peter.riedl@germanistik.uni-freiburg.de gesendet werden.
Wir wünschen Ihnen ein mußevolles Stöbern in den deutschen Reise- und Korrespondentenberichten!