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Quellensammlung

Rückzugsräume – Heterotopien der Muße

Börne: Tuileriengarten

„Wie der Tuileriengarten für die Mikropolitiker, für die Glücksritter und Glücksfußgänger ein Marktplatz ist, auf dem sie kaufen und verkaufen, so ist er für die Makropolitiker ein schöner Paradeplatz, auf dem sie exerzieren und exerzieren sehen. Sechs Zeitungsbuden liefern patriotischen Herzen täglich das nötige Brennholz. Ihr tretet heran, nehmt, ohne ein Wort zu sprechen, ein beliebiges Blatt, geht lesend spazieren, so lange es euch gefällt, bringt dann das Blatt zurück und bezahlt einen Sous dafür. Waret ihr drei bis viermal an der nämlichen Bude, verwundert ihr euch, noch immer denselben wohlgekleideten Mann da zu finden, der schon vor zwei Stunden, im Lesen vertieft, dort gestanden. Er ist ein Lauerer, der sich an der Quelle der Überraschung lagert und daraus jeden Tag frisch die Meinung der Zeitungsleser schöpft; denn wenige Franzosen können mit dem Munde schweigen; mit den Blicken aber, mit den Mienen, Händen und Füßen, das vermag keiner. Auf diese Weise wird in allen Pariser Straßen der öffentliche Geist zusammengekehrt, und nachdem die Besen schönen wie häßlichen Auswurf, Blumen wie welke Krautstengel, zu Kot zerstampft, wird der Unrat in die Kloake der Polizeipräfektur geworfen, die ihn gehörig abführt.
Der Garten wird auf beiden Seiten, seiner Länge nach, von zwei gemauerten Terrassen begrenzt. Die eine, längs der Seine, gewährt eine herrliche Aussicht auf den Strom, auf die Brücken und den Palast der Volksdeputierten, der, nach dem Schlage, der ihn neulich getroffen, auf der linken Seite gelähmt ist. Die andere Terrasse führt die Straße Rivoli entlang und heißt die Terrasse des feuillants, weil bis zur Revolution das Kloster der Feuillants da gestanden. In diesem Kloster hatte die Nationalversammlung ihre Sitzungen. Zu jener Zeit, vor der Hinrichtung des Königs, beliebte es dem Volksmutwillen, jene Terrasse mit einer dreifarbigen Schnur von dem übrigen Garten abzustecken, und er nannte sie le pays national, zum Unterschiede des pays de Coblence. Wehe dem Bürger, der im pays de Coblence spazieren ging, er wurde für einen Aristokraten angesehen und mißhandelt. Ein junger Mann, dem diese geographische Einteilung noch unbekannt war, stieg in das Coblenzer Land hinab. Zusammenlauf, wütendes Geschrei, Verderben drohende Gebärden. Da merkte der Unwissende, was er begangen, kehrte zurück, zog seine Schuhe aus und wischte den Staub von den Sohlen. Jubel, Beifallklatschen, und der Jüngling wurde im Triumphe fortgeführt. Am Fuße dieser Terrasse, da wo sie sich senkend in Gestalt eines Hufeisens ausgeht, innerhalb des Kreisschnittes, liegt ein Platz, mit Stühlen und Bänken versehen, den nennt man: La petite Provence, weil die Mittagssonne, deren Strahlen sich frei und ungehindert an der Mauer brechen, dort eine Wärme verbreitet, die in Wintertagen in jene südliche Provinz Frankreichs versetzt. Da ist der tägliche Sammelplatz vieler hundert Kinder mit ihren Müttern oder Wärterinnen.“

Ludwig Börne, „Schilderungen aus Paris“, in: Sämtliche Schriften, Bd. 2, hg. v. Inge/Peter Rippmann, Düsseldorf 1964, 1–190, hier 61–63.
Kommentar
Neben dem Palais Royal war der Jardin des Tuileries der bedeutendste Pariser Versammlungsort um 1800. Im Bericht Ludwig Börnes besticht der Garten besonders durch seine Beziehung zu politischen und sozialen Verhältnissen. Der deutsche Schriftsteller skizziert zum einen, inwiefern vor Ort die politische Meinungsbildung stattfindet. Andererseits kontrastiert er die gegenwärtige Lage mit den anfänglichen revolutionären Zeiten, in denen das Gelände um das Kloster dazu gedient habe, Aristokraten und Bürgertum sozial-räumlich voneinander abzugrenzen. Schließlich stellt er aber auch eine dritte Funktion des Ortes dar, die eines sonnigen Rückzugsortes inmitten der Metropole.
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