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Quellensammlung

Rückzugsräume – Heterotopien der Muße

Rebmann: Botanischer Garten

„Ohnerachtet ich nichts weniger als Kenner der Naturgeschichte bin, so ist doch einer meiner angenehmsten Spaziergänge der botanische Garten, den ich schon, ohnearachtet seiner Entfernung von meiner Wohnung, einige Male besucht habe. Ich habe desselben in der Übersicht meiner Reise schon gelegentlich und flüchtig erwähnt und will die nähere Beschreibung hier nachholen. Es versteht sich von selbst, daß ich dem Botaniker nichts Neues und Interessantes sagen kann; ich betrachte die Anstalt als Spaziergänger.
Erst etwas von der Geschichte des Gartens. – Den Grund dazu legte Guy de la Brosse, Arzt Ludwigs XIII., und der berühmte Buffon brachte ihn auf den Grund der Vollkommenheit, auf welchem er sich gegenwärtig befindet.
Der Garten enthält ohngefähr 40 Acker Landes. Ein kleiner Berg, welcher darin befindlich ist, führt durch einen Schneckenweg zu einem Kiosk von dreizehn Fuß im Durchschnitt und etwa fünfundzwanzig Fuß in der Höhe, ganz von Eisen. Auf diesem Belvedere hat man eine der reizendsten Aussichten über ganz Paris. Ich glaube, daß schönere Prospekte existieren, aber seltsamere gewiß wenige. Das Ganze sieht aus wie eine ungeheure Felsenmasse, die ein Erdbeben durcheinandergeworfen hat und in welche Löcher und Gänge gehauen worden sind. Ein grauer Duft zieht sich darüber hin, und ein Fluß strömt hindurch. Das Auge läuft, wie eilig, über diese Schornstein- und Mauermasse hinüber und sucht nach Auen und Bäumen und Bergen in der Ferne. Überall aber entdeckt es Häuser, deren Zwischenräume man kaum gewahr wird; und so scheint die Stadt gleichsam unendlich zu sein.
[…]
Der botanische Garten dient rechtlichen Bürgersleuten zum Spaziergang. Zum Behuf der Bequemlichkeit findet man auch hier einen Speisewirt und Kaffeehäuser. Es ist eine sehr angenehme Partie, frühe durch die Stadt sich in diesen Garten zu begeben, dort ein Mittagsmal einzunehmen, sich dann über den Fluß setzen zu lassen und abends über die rauschenden Boulevards mitten durchs Gedränge der schönen Welt zurückzugehn.“

Georg Friedrich Rebmann, „Zeichnungen zu einem Gemälde des jetzigen Zustandes von Paris“, in: Werke und Briefe, Bd. 2, hg. v. Wolfgang Ritschel, Berlin 1990, 387–442, hier 438–440.
Kommentar
Rebmann benennt den Jardin des Plantes als einen der für ihn wichtigsten urbanen Rückzugsorte. Er verweist darauf, selbst ohne nähere Kenntnisse der zu bestaunenden botanischen Sehenswürdigkeiten sei ein Aufenthalt hier stets äußerst angenehm. Den Rückzug aus dem urbanen Leben charakterisiert er jedoch nicht nur auf horizontaler, sondern gleichzeitig auf vertikaler Ebene: Mit dem Belvedere – architekturhistorisch also einem Gebäude, das eine schöne und weite Aussicht ermöglicht – kann der Beobachter den Blick über Paris schweifen lassen, ohne dabei selbst in das städtische Getriebe involviert zu sein.
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