Logo Uni Freiburg

Gefördert durch

DFG-LogoMWK-Logo

Quellensammlung

Rückzugsräume – Heterotopien der Muße

Goethe: Palermo, Sonnabend den 7. April 1787: Besuch des botanischen Gartens

„In dem öffentlichen Garten, unmittelbar an der Reede, brachte ich im Stillen die vergnügtesten Stunden zu. Es ist der wunderbarste Ort von der Welt. Regelmäßig angelegt, scheint er uns doch feenhaft; vor nicht gar langer Zeit gepflanzt, versetzt er ins Altertum. Grüne Beeteinfassungen umschließen fremde Gewächse, Zitronenspaliere wölben sich zum niedlichen Laubengange, hohe Wände des Oleanders, geschmückt von tausend roten nelkenhaften Blüten, locken das Auge. Ganz fremde mir unbekannte Bäume, noch ohne Laub, wahrscheinlich aus wärmern Gegenden, verbreiten seltsame Zweige. Eine hinter dem flachen Raum erhöhte Bank läßt einen so wundersam-verschlungenen Wachstum übersehen und lenkt den Blick zuletzt auf große Bassins, in welchen Gold- und Silberfische sich gar lieblich bewegen, bald sich unter bemooste Röhren verbergen, bald wieder scharenweis, durch einen Bissen Brot gelockt, sich versammeln. An den Pflanzen erscheint durchaus ein Grün das wir nicht gewohnt sind, bald gelblicher, bald blaulicher als bei uns. Was aber dem Ganzen die wundersamste Anmut verlieh, war ein starker Duft der sich über alles gleichförmig verbreitete, mit so merklicher Wirkung, daß die Gegenstände, auch nur einige Schritte hinter einander entfernt, sich entschiedener hellblau von einander absetzten, so daß ihre eigentümliche Farbe zuletzt verloren ging, oder wenigstens sehr überbläut sie sich dem Auge darstellten.
Welche wundersame Ansicht ein solcher Duft entfernteren Gegenständen, Schiffen, Vorgebirgen erteilt, ist für ein malerisches Auge merkwürdig genug, indem die Distanzen genau zu unterscheiden, ja zu messen sind; deswegen auch ein Spaziergang auf die Höhe höchst reizend ward. Man sah keine Natur mehr, sondern nur Bilder, wie sie der künstlichste Maler durch Lasieren auseinander gestuft hätte.
Aber der Eindruck jenes Wundergartens war mir zu tief geblieben; die schwärzlichen Wellen am nördlichen Horizonte, ihr Anstreben an die Buchtkrümmungen, selbst der eigene Geruch des dünstenden Meerees, das alles rief mir die Insel der seligen Phäaken in die Sinne so wie ins Gedächtnis. Ich eilte sogleich einen Homer zu kaufen, jenen Gesang mit großer Erbauung zu lesen und eine Übersetzung aus dem Stegreif Kniepen vorzutragen, der wohl verdiente, bei einem guten Glase Wein, von seinen strengen heutigen Bemühungen behaglich auszuruhen.“

Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, hg. v. Christoph Michel/Hans-Georg Dewitz, Berlin 2011, 258f.
Kommentar
Der botanische Garten dient dem Ich-Erzähler zunächst einmal als innerstädtischer Rückzugsraum, der zum Spazierengehen einlädt. Der Spaziergang ist weder zielgerichtet noch folgt er einem bestimmten Zweck, jedenfalls so lange nicht, bis Goethe sich auf die konkrete Suche nach der Ur-Pflanze begibt. Das zeitentrückte Betrachten führt vielmehr zu einer ästhetischen Erfahrung, bei der die Naturbilder zu Kunstwerken transformiert werden. Die Offenheit des Gehens in Muße ermöglicht die Erfahrung synästhetischer Fülle sowie einer kulturgeschichtlichen sowie auch mythologischen Tiefe, deren Reflexion wiederum auf den Freiraum einer dem zeitlichen Diktat nicht unterworfenen kontemplativen Betrachtung angewiesen ist.
© 2020 Universität Freiburg