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Quellensammlung

Wahrnehmungsformen

London und Paris: Seine

„Dies aber alles bei Seite gesetzt, so giebt die Seine doch dem Fremden, der sich in den engen, himmelhohen Straßen und den noch engern Gassen und Nebengäßchen von Paris, wie in einem dädalischen Labyrinte verwickelt sah, beim ersten freien Anblicke der langgestreckten Quais, endlich einmal wieder einen freien Athemzug voll frischer Luft und eine unverbaute Aussicht auf nähere entferntere Punkte voll schöner Beleuchtungen und sanfte Abstufungen verschiedener Tinten, die dem Auge fehlten, wenn es die Gegenstände um sich her in irgend ein erträgliches Gemälde zusammenfassen wollte.
Bevor man die Ufer der Seine erreicht, wird man von der überfüllten Masse der Gebäude erdrückt, die in dem Innern der Stadt von allen Seiten über einander zusammenstürzen, so oft man seinen Blick nur einmal in die Höhe richten will. Nur der freie, weite Raum, der über dem Strome schwebt, spricht die betäubten Sinne allmählig wieder zufrieden, und läßt das verschüchterte Auge nach und nach wieder auf den Zinnen schöner Tempel und auf den Gipfeln prächtiger Palläste ausruhen, oder in die tiefen Schatten der Elisäischen Felder sich versenken, die uns mitten aus dem Getümmel der Stadt in eine neue Welt versetzen. Stolze Brücken erheben sich zu beiden Seiten. Die vom Alter gedrückte Samaritaine, deren Schöpfräder das Wasser in die Stadt zu leiten, fast überdrüssig geworden sind, senkt ihr müdes Haupt bedenklich zu dem Flusse herab, und beschaut von oben her die schwimmenden Lasten gefüllter Kähne, die unter ihren Bogen durchgleiten. Jenseits der Brücke glänzt von mildem Abendschimmer geröthet, mit ihren abgestumpften Thürmen die ehrwürdige Notre-Dame; und wie ein weißes Nachtgespenst erhebt sich hier zur Rechten in bescheidenem Abstande die heilige Genevieve, deren stolze Kuppel die Gebeine Voltaireʼs und Rousseauʼs bedeckt. Uns gegen über sehen wir die Thürme St. Sulpice, das Gebäude der 4 Nationen, den neuen Pallast der gesetzgebenden Gewalt und den mit der Genevieve wetteifernden Tempel des Mars, der in dem großen Hotel der Invaliden thront. Ein neues Schauspiel erwartet uns mit einbrechender Nacht. Tausend schimmernde Lämpchen gaukeln in der Tiefe des Stroms und verdoppeln die Wirkung der unermeßlichen Illumination, die aus den Fenstern der Gebäude von beiden Seiten uns entgegenstrahlt. Das Rasseln der Wagen, das unaufhörliche Getöse der hin und her wogenden Menge auf allen Brücken, die über die Seine führen und die eine Hälfte der Stadt mit der andern verbinden, stört die Ruhe der Nacht und hemmt die stille Betrachtung über die Vergänglichkeit der Dinge, deren Sinnbild wir in der vorübereilenden Welle erblickten.“

London und Paris, Bd. 12, 1803, 194–196.
Kommentar
Der Korrespondent Karl Gottlieb Horstig kontrastiert in seiner Beschreibung von Paris drei Wahrnehmungsformen, die zunächst einer räumlichen und dann einer zeitlichen Differenz unterliegen. Während die Häuserschluchten der unzähligen Gebäude einen frei schweifenden Blick gänzlich verhindern, kommt der Beobachter in diesen Genuss erst an der Seine. Hier kann er einen „freie[n], weite[n] Raum“ wahrnehmen, den er ganz bewusst der restlichen Stadt gegenüberstellt. Am Fluss angelangt, bietet sich ihm ein fast unermessliches Panorama, das er sogleich in Augenschein nimmt. Doch auch diese Wahrnehmungsform ist letztlich von beschränkter Dauer: Sobald die Nacht hereinbricht, wirkt die Seine durch diverse Illuminationen umso prachtvoller – gleichzeitig jedoch verhindert das laute Getöse der Menschen- und Wagenmassen eine kontemplative Betrachtung der Stadtkulisse.
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