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Quellensammlung

Wahrnehmungsformen

Börne: Grèveplatz

„Ein aufgeschlagenes Buch ist Paris zu nennen, durch seine Straßen wandern heißt lesen. In diesem lehrreichen und ergötzlichen Werke, mit naturtreuen Abbildungen so reichlich ausgestattet, blättre ich täglich einige Stunden lang. Es war zwei Uhr, da ich aus dem Hause trat. Unfehlbar um diese Zeit spielt der fleißige Tischler gegenüber ein Viertelstündchen mit seinen Papageien; dann wird der Hobel von neuem gerührt. Der deutsche Baron, mein Nachbar, war eben heimgekehrt und hüpfte, wie ein Spatz, aus seinem Tilbury. Ein leichtfüßiger Herr! Das Pferd, auf dem Wege zum Stalle, wird kaum fühlen, daß seine Last leichter geworden. Bald kam ich in die Straße Vivienne. Hier ist das Paradies der weiblichen Welt, da findet sich alles, was die Häßlichkeit braucht, sich zu verbergen, und die Schönheit, sich zu verraten. Hüte, Blonden, Schleier, Geschmeide von Gold und Edelsteinen, und alles in so reichem und kostbarem Vorrate, daß selbst eine Königin mit Bedenken wählen müßte. Vor einem Putzladen hielt eine glänzende Kutsche; der gemächlichen Dame öffnete ein Mohr den Schlag. Ich sah mir das Wappen an – ein ganzes Stickmuster von farbigen Feldern, nebst Klauen- und Schnabeltieren aller Art. Fünf Minuten später warf ich den Blick durch die geöffnete Pforte des Tempels der Eitelkeit und sah für einen Hut einen Bankzettel hinlegen. Das waren, wenn nicht tausend, wenigstens fünfhundert Franken. Darauf wurden zwei Goldstücke herausgegeben. Der Hut war schöner, als ihn eine männliche Feder beschreiben kann: ein Paradiesvogel mit seinem ganzen Gefieder umschimmerte den Kopf. Habe so etwas in meinem Leben noch nicht gesehen! Doch vielleicht hätte die edle Frau Rang und Reichtum gern für das hübsche Gesicht hingegeben, das neben mir lechzende Augen nach Hut und Bankzettel schickte. Ich ging weiter, ein kleiner Menschenkreis zog mich an, ich drängte mich durch. Zwei Lumpensammler waren in heftigen Wortwechsel geraten. Ihr kümmerliches Gewerbe folgt dem des Bettlers. Der eine hatte einen handbreiten wollenen Lappen im Kuhmist ausgestöbert, der andere als gleichzeitiger Entdecker machte Ansprüche darauf, hob drohend seinen Stock mit eisernen Haken in die Höhe und sprach mit wütenden Gebärden: veux-tu lâcher cela? Unweit davon zeichnete ein Mann stehenden Fußes etwas in seine Schreibtafel ein, so ernst, so andächtig dabei, als hätte ihm der liebe Gott seine zehn Gebote in die Feder gesagt. Ein schnarrendes Gare! weckte ihn aus seinen frommen Träumen. Er mochte wohl ein Wechselmäkler sein, denn er war von der Seite der Börse hergekommen. Jetzt ging ich den Perron hinab in das Palais Royal. Dieses Lustlager ist wohl jedem bekannt. Alles findet sich hier, selbst menschliches Elend – nur nicht dessen Schein. Die Armut ist vergoldet, der Hunger scherzt, das Laster lächelt.
So war ich zwei Stunden lang umhergewandert und hatte auf allen Straßen das regste Leben gefunden. Es hüpfte, sang und lachte zwar nicht immer dieses Leben, es schlich, stöhnte und weinte wohl auch – doch es lebte.“

Ludwig Börne, „Schilderungen aus Paris“, in: Sämtliche Schriften, Bd. 2, hg. v. Inge/Peter Rippmann, Düsseldorf 1964, 1–190, hier 34f.
Kommentar
Mit seiner berühmten Formel von der Stadt als durch Spaziergänge lesbarem Buch hat Ludwig Börne eine der einflussreichsten Darstellungen deutscher Großstadtliteratur vorgelegt. In einem vergleichsweise kurzen Abschnitt erläutert er, welche spezifische Wahrnehmungsform für ihn damit einhergeht: Er spaziert zwei Stunden durch Paris – was innerhalb dieser Zeit passiert, was er im Einzelnen wahrnimmt, bleibt jedoch offen und zufällig. Verschiedenste Eindrücke kreuzen den Weg des Beobachters und er entscheidet jeweils selbstbestimmt, sie sich genauer anzusehen und von ihnen ausgehend in nuce ein soziales Bild von Paris zu zeichnen. Börnes Charakterisierung steht paradigmatisch für Ausprägungen der Flanerie: Sie skizziert eine ziel- und richtungslose Bewegung und Wahrnehmung im städtischen Raum, die für heterogene Eindrücke offen ist und dabei frei über die Zeit verfügt.
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