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Quellensammlung

Wahrnehmungsformen

Pückler-Muskau: Boulevards

48. Brief, den 14ten [Februar 1829]

„Auf den Boulevards hat man, wie ich heute erst bemerkte, gute Verbesserungen durch Wegnahme mehrerer Häuser bewerkstelligt, und die Portes St. Denis und St. Martin nehmen sich nun weit besser aus als ehemals. Ludwig XIV. verdient diese Monumente, schon um seiner Verschönerung der Hauptstadt willen, denn in der Tat, was man in Paris Schönes und Großes sieht, Ludwig XIV. oder Napoleon gründeten es. Die Alleen hat man glücklicherweise sorgfältig geschont und nicht, wie in Berlin Unter den Linden und auf dem Dönhoffplatz, die großen Bäume abgehauen, um kleine astlose Knüppel statt ihrer hinzupflanzen. Einen seltsamen Anblick gewähren die vielen Dames blanches und Omnibus, Wagen, die zwanzig bis dreißig Personen halten, die Boulevards fortwährend von einem Ende bis zum anderen durchfahren und jeden müden Fußgänger für bestimmte, sehr billige Preise darin aufnehmen. Meldet sich einer, so zieht der hinten sitzende Kondukteur eine Klingel und der Kutscher hält. Eine fliegende Treppe sinkt herab und in wenigen Sekunden geht es wieder vorwärts. Nur drei unglückliche Rosse ziehen diese schweren Wagen, so daß ich bei der jetzigen Glätte oft sämtliche Pferde nebeneinander hinstürzen sah. Man sagt, England sei eine Hölle für die Pferde, sollte indes die Metempsychose wahr sein, so bitte ich mir doch jedesmal aus, lieber ein englisches Pferd zu werden als ein französisches. Wie man diese unglücklichen Tiere hier oft behandelt, ist wahrlich empörend! Und es wäre zu wünschen, daß die Polizei sie wie in England beschütze. Ich erinnere mich, daß ich einst in London eine ähnliche Mißhandlung eines armen Kabriolettpferdes durch einen Fiaker mit ansah. „Kommen Sie“, sagte der mich begleitende Engländer; „wenn Sie eine Stunde Zeit haben, sollten Sie sofort der Bestrafung dieses Menschen beiwohnen.“ Er rief den Mann nun ganz gelassen heran, stieg mit mir ein, und befahl ihm, aufs Polizei-Büro zu fahren. Dort brachte er seine Klage an, daß der Kutscher sein Pferd unnütz gepeinigt und gemißhandelt habe. Ich bezeugte es, und der Kerl war genötigt, sogleich eine ziemlich bedeutende Geldstrafe zu erlegen, worauf er uns noch wieder zurückfahren mußte. Du kannst Dir seinen guten Humor dabei vorstellen.
Auch in anderen Teilen der Stadt sind solche Omnibus im Gange, und die längste course kostet doch nur einige Sous. Es ist höchst amüsant, abends dergleichen Fahrten, auch ohne bestimmten Zweck, zu machen, nur der sonderbaren Karikaturen wegen, die man hier antrifft und der originellen Konversationen, die man mit anhört. Man glaubt oft, einer Vorstellung der Varietés beizuwohnen, und findet Brunets und Odrys Originale getreu hier wieder. Du weißt, wie gern ich auf diese Art beobachtend unter Menschen bin, und überhaupt dazu die Mittelstände am meisten liebe, die auch heutzutage allein noch etwas Eigentümliches haben, und auch die glücklichsten sind, denn wahrlich – die Medaille hat sich ganz und gar umgekehrt.“

Hermann Fürst von Pückler-Muskau, Briefe eines Verstorbenen, hg. v. Heinz Ohff, Berlin 1986, 388f.
Kommentar
In seinem Bericht zu den Pariser Boulevards – den ehemaligen und im 17. Jahrhundert geschliffenen Stadtmauern – kontrastiert Hermann Fürst von Pückler-Muskau zwei Fortbewegungs- und damit Wahrnehmungsarten. Während er zunächst auf einen Spaziergang über die Anlagen rekurriert und dabei die diachrone Veränderung des Stadtbildes reflektiert, wandelt sich die Perspektive im zweiten Teil. Obwohl den passionierten Reiter Pückler-Muskau die Behandlung der für diverse Omnibusse (gemeint ist zeitgenössisch eine große Kutsche für Personentransporte) eingesetzten Pferde gewaltig stört, empfiehlt er den Leserinnen und Lesern doch eine Rundfahrt mit einem derartigen Gefährt. Insbesondere dann, wenn man keinem „bestimmten Zweck“ nachhängen müsse, könnten sich die interessantesten Beobachtungen ergeben – sei es im oder außerhalb des Busses.
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