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Quellensammlung

Wahrnehmungsformen

Rebmann: Spaziergang durch Paris

„Es war heute so vortreffliches Wetter, daß ich mich entschloß, meine schon lange angefangenen Wanderungen durch verschiedene Teile von Paris fortzusetzen. Ohnerachtet ich schon über ein halbes Jahr in Paris bin, so komme ich doch noch lange nicht an die Beschreibung des Panthéons, des Museums etc. Ich will erst mit dem Lebenden recht bekannt sein, ehe ich mich mit den leblosen Sehenswürdigkeiten bekannt machte. Müde und matt – denn ich habe einen Spaziergang von etwa zwei und einer halben deutschen Meile gemacht, erhole ich mich damit, daß ich alles, was mir vorgekommen ist, die Revuen passieren lasse und das aufzeichne, was mir charakteristisch oder merkwürdig schien. Ob es Ihnen, mein Freund! nicht höchst unwichtig vorkommen mag, weiß ich freilich nicht. Von meinem Hause aus habe ich nur zwanzig Schritte nach dem Gleichheitspalast. Dieser Zaubersitz verändert sich mit jeder Stunde, und ob ich ihn gleich alle Tage einigemal durchstreiche, so finde ich doch immer etwas Neues. Die Broschüren des Tags, deren heute manche neue ausgerufen wurden, interessieren Sie schwerlich, weil Sie zu viel Vorkenntnisse des Lokalen und der augenblicklichen Stimmung von Paris erfordern. Kennt man freilich diese, so sind diese Flugblätter dem Beobachter ein wahres Thermometer, wornach man zuweilen gar genau bestimmen kann, ob der Gemeingeist unter oder über dem Gefrierpunkt steht oder ob etwa gar bald ein Sturm erfolgen möchte. Eine Menge Volks im ersten Hof, welches sich um eine Bilderbude versammelt hatte, brachte mich auf die Vermutung, daß irgend eine neue Karikatur zum Vorschein gekommen sein müsse, und ich hatte mich nicht geirrt.
[…]
Vom Gleichheitspalast aus ging ich durch die menschenvolle Straße Honoré in den Garten der Tuilerien. Ich führe bei dieser Gelegenheit an, daß ich die Equipage sowohl als die Cabriolets, Remisen und Fiacres sich in Paris mit jedem Tage vermehren. Man muß eine Art von Übung besitzen, um nicht beständig sich in einer Art von Lebensgefahr zu befinden, zumal da unsere Polizei so wenig darauf zu achten scheint, die Schnellfahrer zurechtzuweisen. Es gibt hier Plätze, wo eine Masse von Menschen sich durch Karossen, Cabriolets und Wagen oft plötzlich so umgeben und durchkreuzt befindet, daß man, wenn man aus dem Gewirre ist, mit Beben an die Gefahr denkt, der man kaum entging. Auf Besprützung mit Kote und manchmal auf einige Rippenstöße, denen aber immer ein verbindiches: „Je vous demande mille fois pardon“ folgt, kann man immer rechnen. Während ein Friseur einem den einen Rockärmel weiß macht, schwärzt dafür der vorbeistreichende Kohlenträger den andern; man springt seitwärts und erhält die Hälfte vom Eimer eines Wasserträgers in den Stiefel, mit einem „Trône de Dieu!“ begleitet. Ehe man noch Zeit hat, darüber böse zu werden, muß man schon darauf bedacht sein, dem Cabriolet auszuweichen, das um die Straßenecke hineinbeugt, und ein Ballen Schlamm, der aus der Pfütze an der Seite durch die Räder aufgeregt wird, springt den murrenden Fußgängern noch überdies ins Gesicht, dabei schreit der Kutscher „Gare!“, der Broschürenhändler ruft: „Sauvez-nous, aux armes!“ etc., oder wie die Titel seiner Broschüren sonst heißen mögen, der Wasserträger schreit: „Eau!“, der Buchtrödler an der Seite: „Dix sous la pièce!“, die Verkäuferinnen von Gebackenem: „Régalez-vous!“ usw., darunter trommelt noch etwa eine vorbeiziehende Runde, zanken sich ein paar Fischweiber, fluchen einige Lastträger, schreien einige Kinder, lispeln einige Gassennymphen: „Viens donç“; und man atmet endlich freier, wenn man einen Platz erreicht hat, wo man weniger Gedränge findet. Dies ist das gewöhnliche Gemälde vieler lebhaften Straßen von Paris.
Heute war das Gedränge noch größer als gewöhnlich, weil sich viele Leute gestellt hatten, um den Rest einer Feuersbrunst zu sehen, die gestern in der Straße Honoré bei einem Lichtzieher ausgebrochen war und wobei funfzehn Menschen, unter andern ein Grenadier der Convention, der drei Menschen gerettet hatte, über der Rettung des vierten verbrannt waren. Ohnerachtet ich kaum zwei Straßen davon wohne, habe ich doch erst heute das erste Wort davon erfahren.
Ich muß Ihnen, da ich einmal ins Schwatzen bei Gelegenheit gekommen bin, hier doch die allgemeine Bemerkung mitteilen, daß kein Volk so neugierig ist als das Pariser. Haben Sie Lust, eine Menge Menschen um sich zu versammeln, so brauchen Sie bloß mit einer Affektation von Aufmerksamkeit irgendwo stehenzubleiben und auf einen Punkt starr hinzusehen, wo nichts zu sehen ist. Gleich häufen sich fünf, zehn, bis dreißig und vierzig Menschen um Sie an, welche Ihre Hälse recken und mit aufgerissenen Augen den Grund Ihrer Neugierde ausspähen wollen. Ich habe mir oft das Vergnügen gemacht, einige solche Späher zum besten zu haben und dann fortzugehen, um es dem Raten der Gruppe zu überlassen, was hier wohl Sonderbares zu sehen gewesen sein möchte, mag aber dieses Experiment doch nicht öfterer wiederholen, seit ich die Erfahrung gemacht habe, daß die Lastträger und Poissarden es manchmal übelnehmen und mit gewissen Ehrentiteln sehr freigebig sind.
[…]
Die schöne Straße der Revolution führte mich auf die Boulevards, die mir immer neu und angenehm sind, sooft ich sie betrete. Ich habe ihrer schon mehrmals erwähnt und bin nie imstande gewesen, sie Ihnen ganz zu malen. Man muß das Gewühle und Getreibe von Menschen hier selbst sehen und die Gradation zwischen dem vornehmern und geringern Teile derselben selbst bemerken. Ich führe nur an, daß ich hier fast die Hälfte meines Tages zubrachte und erst gegen Abend einen kleinen Abweg nach der Vorstadt Montmartre in die Schenke „Zum Ochsen“ machte, weil ich an einer Ecke mit großen Buchstaben angeschrieben fand: Bal allemand et français.“

Georg Friedrich Rebmann, „Zeichnungen zu einem Gemälde des jetzigen Zustandes von Paris“, in: Werke und Briefe, Bd. 2, hg. v. Wolfgang Ritschel, Berlin 1990, 387–442, hier 422–427.
Kommentar
In einem mehrere Orte umfassenden, ausgedehnten Spaziergang durch Paris greift Georg Friedrich Rebmann auf eine um 1800 gängige Praxis der Reiseliteratur zurück. Den gängigen Vorstellungen eines glückenden Reisens folgend – zeitgenössisch formuliert durch sog. Apodemiken, d.h. didaktische Anleitungen zum Reisen –, unternimmt er in der großen Stadt Paris vor allem Spaziergänge, um sich den Stadtraum anzueignen. Er passiert während seines Spaziergangs verschiedene bedeutende öffentliche Orte, die er aber nicht etwa in ihrer tagesaktuellen Ausprägung, sondern vielmehr in ihrem allgemeinen Charakter beschreibt.
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