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Quellensammlung

Theatralität des Urbanen

Goethe: Neapel, zum 19. März [1787]: Straßenbilder

„Man darf nur auf der Straße wandeln und Augen haben, man sieht die unnachahmlichsten Bilder.
Am Molo, einer Hauptlärmecke der Stadt, sah ich gestern einen Policinel, der sich auf einem Bretergerüste mit einem kleinen Affen stritt, drüber einen Balkon auf dem ein recht artiges Mädchen ihre Reize feil bot. Neben dem Affengerüste ein Wunderdoktor, der seine Arkana gegen alle Übel den bedrängten Gläubigen darbot; von Gerhard Dow gemalt, hätte solch ein Bild verdient Zeitgenossen und Nachwelt zu ergötzen.
So war auch heute Fest des heiligen Josephs; er ist der Patron aller Frittaruolen, d. h. Gebacknesmacher, versteht sich Gebacknes im gröbsten Sinne. Weil nun immerfort starke Flammen unter schwarzem und siedendem Öl her vorschlagen, so gehört auch alle Feuerqual in ihr Fach, deswegen hatten sie gestern Abend vor den Häusern mit Gemälden zum besten aufgeputzt: Seelen im Fegfeuer, jüngste Gerichte glühten und flammten umher. Große Pfannen standen vor der Türe auf leicht gebauten Herden. Ein Gesell wirkte den Teig, ein anderer formte, zog ihn zu Kringeln und warf sie in die siedende Fettigkeit. An der Pfanne stand ein dritter, mit einem kleinen Bratspieße, er holte die Kringlen, wie sie gar wurden, heraus, schob sie einem vierten auf ein ander Spießchen der sie den Umstehenden anbot; die beiden letzten waren junge Bursche mit blonden und lockenreichen Peruquen, welches hier Engel bedeutet. Noch einige Figuren vollendeten die Gruppe, reichten Wein den Beschäftigten, tranken selbst und schrien die Ware zu loben; auch die Engel, die Köche, alle schrien. Das Volk drängte sich herzu, denn alles Gebackene wird diesen Abend wohlfeiler gegeben und sogar ein Teil der Einnahme den Armen.
Dergleichen könnte man endlos erzählen; so geht es mit jedem Tage, immer etwas neueres und tolleres, nur die Mannigfaltigkeit von Kleidern die einem auf der Straße begegnet. Die Mensche Menschen in der einzigen Straße Toledo!
Und so gibt es noch manche originale Unterhaltung wenn man mit dem Volke lebt, es ist so natürlich, daß man mit ihm natürlich werden könnte. Da ist z. B. der Pulcinell, die eigentliche Nationalmaske, der Harlekin aus Bergamo, Hanswurst aus Tyrol gebürtig. Pulcinell nun, ein wahrhaft gelassener, ruhiger, bis auf einen gewissen Grad gleichgültiger, beinah fauler und doch humoristischer Knecht. Und so findet man überall Kellner und Hausknecht. Mit dem unsrigen machtʼ ich mir heute eine besondere Lust und es war weiter nichts als daß ich ihn schickte Papier und Federn zu holen. Halber Mißverstand, Zaudern, guter Wille und Schalkheit brachte die anmutigste Szene hervor die man auf jedem Theater mit Glück produzieren könnte.“

Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, hg. v. Christoph Michel/Hans-Georg Dewitz, Berlin 2011, 230f.
Kommentar
In den Schilderungen über den Aufenthalt in Neapel nimmt der Protagonist das städtische Leben wiederholt mit einer Haltung heiterer Gelassenheit wahr. Er genießt das Eintauchen in das urbane Treiben insbesondere dann, wenn er dessen theatralische Seite aufzuspüren meint. Die wichtigste Referenzfigur wird dabei Pulcinell aus der von Goethe besonders geschätzten Commedia dell’arte. In der Italienischen Reise wird keine Maske so häufig erwähnt wie diese. Ein besonderes Attribut des sorglos-nachlässigen und skeptisch-klugen Pulcinells ist jene Gelassenheit, die der Beobachter selbst adaptiert und damit aus seiner Sicht auch ein Stück italienischer Lebensweise, die Pulcinell in Goethes Vorstellung in besonderer Weise verkörpert.
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