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Quellensammlung

Wahrnehmungsformen

Goethe: Venedig, den 6. Oktober [1786]: Gesang der Gondolieri

„Auf heute Abend hatte ich mir den famosen Gesang der Schiffer bestellt, die den Tasso und Ariost auf ihre eignen Melodien singen. Dieses muß wirklich bestellt werden, es kommt nicht gewöhnlich vor, es gehört vielmehr zu den halb verklungenen Sagen der Vorzeit. Bei Mondenschein bestieg ich eine Gondel, den einen Sänger vorn, den andern hinten; sie fingen ihr Lied an und sangen abwechselnd Vers für Vers. Die Melodie, welche wir durch Rousseau kennen, ist eine Mittelart zwischen Choral und Rezitatif, sie behält immer denselbigen Gang, ohne Takt zu haben; die Modulation ist auch dieselbige, nur verändern sie, nach dem Inhalt des Verses, mit einer Art von Deklamation, sowohl Ton als Maß; der Geist aber, das Leben davon, läßt sich begreifen, wie folgt.
Auf welchem Wege sich die Melodie gemacht hat, will ich nicht untersuchen, genug sie paßt gar trefflich für einen müßigen Menschen, der sich etwas vormoduliert und Gedichte, die er auswendig kann, solchem Gesang unterschiebt.
Mit einer durchdringenden Stimme, – das Volk schätzt Stärke vor allem, – sitzt er am Ufer einer Insel, eines Kanals, auf einer Barke, und läßt sein Lied schallen so weit er kann, über den stillen Spiegel verbreitet sich's. In der Ferne vernimmt es ein anderer, der die Melodie kennt, die Worte versteht, und mit dem folgenden Verse antwortet; hierauf erwidert der Erste, und so ist einer immer das Echo des andern. Der Gesang währt die Nächte durch, unterhält sie ohne zu ermüden. Je ferner sie also von einander sind, desto reizender kann das Lied werden; wenn der Hörer alsdann zwischen beiden steht, so ist er am rechten Flecke.
Um dieses mich vernehmen zu lassen, stiegen sie am Ufer der Giudecca aus, sie teilten sich am Kanal hin, ich ging zwischen ihnen auf und ab, so daß ich immer den verließ, der zu singen anfangen sollte, und mich demjenigen wieder näherte der aufgehört hatte. Da ward mir der Sinn des Gesangs erst aufgeschlossen. Als Stimme aus der Ferne klingt es höchst sonderbar, wie eine Klage ohne Trauer, es ist darin etwas unglaublich, bis zu Tränen rührendes. Ich schrieb es meiner Stimmung zu; aber mein Alter sagte: é singolare, come quel canto intenerisce, e molto piu quando é piu ben cantato. Er wünschte, daß ich die Weiber vom Lido, besonders die von Malamocco und Palestrina hören möchte, auch diese sängen den Tasso auf gleiche und ähnliche Melodien. Er sagte ferner: sie haben die Gewohnheit, wenn ihre Männer aufʼs Fischen inʼs Meer sind, sich ans Ufer zu setzen, und mit durchdringender Stimme, Abends, diese Gesänge erschallen zu lassen, bis sie auch von Ferne die Stimme der ihrigen vernehmen, und sich so mit ihnen unterhalten. Ist das nicht sehr schön? und doch läßt sich wohl denken, daß ein Zuhörer in der Nähe, wenig Freude an solchen Stimmen haben möchte, die mit den Wellen des Meeres kämpfen. Menschlich aber und wahr wird der Begriff dieses Gesanges, lebendig wird die Melodie, über deren tote Buchstaben wir uns sonst den Kopf zerbrochen haben. Gesang ist es eines Einsamen in die Ferne und Weite, damit ein anderer, gleichgestimmter, höre und antworte.“

Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, hg. v. Christoph Michel/Hans-Georg Dewitz, Berlin 2011, 90–92.
Kommentar
Den Gesang der Gondolieri vernimmt der Protagonist nicht in Form eines zufälligen Erlebnisses, das den Flaneur auf seinen städtischen Streifzügen überrascht, sondern, einem exklusiven Konzertbesuch vergleichbar, aufgrund einer gezielten Entscheidung. Die eingeschränkten optischen Möglichkeiten nach Einbruch der Dunkelheit lenken die Aufmerksamkeit des Ichs ganz auf das Akustische. Das Ich kann sich so sammeln, sich versenken, sich ganz auf das Gehörte einlassen. Der Gesang kann seine tiefe Wirkung entfalten, weil er einen Hörer erreicht, bei dem Muße und poetische Gestimmtheit einen idealen Resonanzboden bilden. In der Dunkelheit verblasst das Empfinden für die Grenzen von Raum und Zeit. Nichts lenkt das Ich von seinem intensiven Hörerlebnis ab. Die besondere Raumzeitlichkeit dieses Resonanzphänomens weist es so auch als eine Form urbaner Muße aus.
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