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Quellensammlung

Wahrnehmungsformen

Goethe: Rom, den 2. Dezember 1786: Kunststudium als tätige Muße

„[...] Am 28. November kehrten wir zur Sixtinischen Kapelle zurück, ließen die Galerie aufschließen, wo man den Platfond näher sehen kann, man drängt sich zwar, da sie sehr eng ist, mit einiger Beschwerlichkeit und mit anscheinender Gefahr, an den eisernen Stäben weg, deswegen auch die schwindlichen zurück bleiben; alles wird aber durch den Anblick des größten Meisterstücks ersetzt. Und ich bin in dem Augenblicke so für Michel Ange eingenommen, daß mir nicht einmal die Natur auf ihn schmeckt, da ich sie doch nicht mit so großen Augen wie er sehen kann. Wäre nur ein Mittel sich solche Bilder in der Seele recht zu fixieren. Wenigstens was ich von Kupfern und Zeichnungen nach ihm erobern kann bringʼ ich mit.
Wir gingen von da auf die Logen Raphaels und kaum darf ich sagen: daß man diese nicht ansehen durfte. Das Auge war von jenen großen Formen, und der herrlichen Vollendung aller Teile, so ausgeweitet, und verwöhnt, daß man die geistreichen Spielereien der Arabesken nicht ansehen mochte, und die biblischen Geschichten, so schön sie sind, hielten auf jene nicht Stich. Diese Werke nun öfterer gegen einander zu sehen, mit mehr Muße und ohne Vorurteil zu vergleichen, muß eine große Freude gewähren. Denn anfangs ist doch alle Teilnahme nur einseitig. [...]“

Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, hg. v. Christoph Michel/Hans-Georg Dewitz, Berlin 2011, 155f.
Kommentar
Das intensive Kunststudium in Rom beschreibt Goethe wiederholt als eine Form tätiger Muße. Für diese iterative Form der Kunstaneignung benötigt der Besucher Muße, wie der Ich-Erzähler in diesem Fall expressis verbis betont. Die einlässliche Kunstbetrachtung erfordert eine offene Raum-Zeit-Struktur, in der sich jene Konzentration entfalten kann, die zu einer umfassenden und eben nicht einseitigen „Teilnahme“ führt. Das entsprechend gestimmte Ich lässt sich in Muße auf das Kunstwerk ein, mit einem vergleichenden Blick als methodischer Leitkategorie.
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