Logo Uni Freiburg

Gefördert durch

DFG-LogoMWK-Logo

Quellensammlung

Bilder einer Großstadt: Tableau und Panorama

London und Paris: Fleetstreet/Cheapside

„Ist dieses Gewühl sehr groß, so verschränken und versitzen sich die Räder, und die ganze lange Straße gewährt einen Anblick, der höchst sonderbar ist. In einem Nu steht alles stille. Der Wagen des Pairs, ein Meisterstück von funfzig Künstlern spiegelglatt polirt und wie ein Etuis gehalten, ist hier zwischen zwey stämmigen Steinkohlwagen eingezwängt. Eine stutzerhafte Lade auf einem leichten Curricle von zwey schmucken Bedienten zu Pferde begleitet, hat von einer Seite ein langes breites Ungeheuer von Käsewagen aus Cheshire, und auf der andern einen verpestenden Dr–ckkarn; der Reuter ist noch übler daran, weil er immer auf sich wirken lassen muß, ohne wieder die grobe Wagenburg Repressalien brauchen zu dürfen. Am beunruhigendsten ist die Beredtsamkeit sammt den frappanten Argumenten der Kutscher, Kohlenheber, Kärner und Bierschröter. Dieser Wirrwarr erstreckt sich auf beyden Seiten hier beynahe bis in die Mitte des Standes, und dort bis an die Paulskirche hin. – Aber solche Auftritte in der Fleetstraße sind nicht rein städtisch; die Mischung der beyden Hälften Londons ist noch zu groß: doch kaum hat man sich der Anhöhe genähert, auf welcher die Nebenbuhlerinn der Peterskirche steht, so ist man in einer neuen Welt.
St. Pauls Kirchhof ist ein Ruhepunkt. Man begegnet hier nicht vielen Wagen, und der Strom von Fußgängern kann sich nach Gemächlichkeit in Arme theilen. Bloß Bänkelsänger, Griechen und Juden, die Pantoffeln feil bieten, und ein paar Orangen- und Obstleute stoßen einem auf. Allein verfolgt man die linke Seite, so tritt man bald in die reichste Straße der Stadt London; wer dafür mit den Londnern sagen will die reichste Gasse in der Welt, kann wohlgemuth sein Wort verfechten, ohne sonderlichen Widerspruch zu besorgen. Diese famöse Straße, an deren Ende der Geldkasten von Europa und den beyden Indien steht, heißt Cheapside. Es fehlt hier nicht an Pracht. Die Silberläden sind hier so reich wie in der Neustadt, und die Ladenhändler schmiegeln und putzen das Aeußere eben so sorgfältig. Aber im Ganzen genommen darf man hierauf nicht genau sehen, um den Reichthum daraus ahnden zu wollen.
Was sind denn nun die Wunder der City? Warum erstaunt der Neustädter wie der Ausländer? Durch die ganze Natur wirken solche Gegenstände stärker auf die Einbildung, die uns mehr vermuthen lassen, als zeigen. Hundert Dinge liegen hier vor den Augen des Beobachters, aus denen er bey sich folgern muß, daß an diesem Orte ungeheure Schätze, theils unmittelbar, theils durch die geheimnißvollen wundersamen papiernen Hülfsmittel des Handels, aus einer Hand in die andere gehen. Dieses ganze Gemählde, wovon wir jetzt nur einen flüchtigen Umriß geben, ist es, was so mächtig auf jeden wirkt, der von Sanct Pauls bis über die Bank und die Börse hinaus an das Ostindische Compagniehaus geht.“

London und Paris, Bd. 5, 1800, 102f.
Kommentar
Mit Fleetstreet und Cheapside skizziert Johann Christian Hüttner zwei der um 1800 bedeutendsten Londoner Straßenzüge. Gerade Fleetstreet – traditionell das Zentrum der Londoner Presse – bietet dem Beobachter dabei Eindrücke, die in nuce dafür stehen, was die „Wunder der City“ konstituiert. Für einen Moment steht, tableauartig, das ansonsten belebte urbane Geschehen still und bietet Hüttner die Möglichkeit, die verschiedenen Beobachtungsgegenstände zu differenzieren. Indem er gleichzeitig versucht, mehrere Orte in seine Wahrnehmung einzubeziehen, schwankt seine Darstellung zwischen den Polen statisch-tableauartiger und überblickend-panoramatischer Schilderung.
© 2020 Universität Freiburg