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Quellensammlung

Bilder einer Großstadt: Tableau und Panorama

London und Paris: Boulevards

„Wenn ein in Paris geborener Französischer Schriftsteller mit Recht behauptet, sein unermeßlicher Geburtsort sey eigentlich nicht für die Fußgänger erbauet, so kann man wenigstens mit eben so viel Wahrheit sagen, daß jener Spaziergang nichts weniger als für die, welche zu Fuß sind, angelegt sey, ungeachtet man sich alle Mühe giebt, sie dessen zu überreden. Freilich hat man die auf beiden Seiten der Fahrstraße laufenden Seitenwege an vielen Stellen durch Pfeiler oder Schranken dem Fahrwerke und den Reitern zu versperren gesucht. Aber die mit Hunden bespannten Becker- und Fleischer-, ingleichen die von zweibeinigen Thieren gezogenen Wasser-Karren nebst den Kiepen-, Balken-, Sack-, Kasten- und Möbelnträgern treiben den armen Fußwanderer oft so in die Enge, daß er seine in keiner Assecuranglasse versicherten Gebeine lieber dem breitern Fahrwege anvertraut. Freilich läßt die Polizei die zur Promenade bestimmten Seiten-Alleen alle Frühjahr mit frischem Sande bestreuen; aber dieser Sand wird in weniger als 14 Tagen zu Pulver getreten und von dem nächsten durchdringenden Regen in Koth verwandelt, so daß der Boulevard, nach Beschaffenheit der Witterung, bald mit Morast, bald mit ungeheuern Staubwolken bedeckt, Polen und die Mark Brandenburg zugleich darstellt. Dies nebst den vielen Kopf- und Rippenstößen abgerechnet, bleibt er indeß immer eine in ihrer Art unübertreffbare Promenade.
Und was ist es denn, das diese Promenade vor so viel Tausend andern in der Welt auszeichnet? Theils die große Menge und Mannichfaltigkeit von Producten der Natur und Kunst, welche hier auf die anlockendste Weise ausgestellt und feilgeboten werden; theils die große Anzahl von Spaziergängern, welche sich, gleichsam als durch stillschweigende Verabredung, täglich daselbst versammelt, um jene Erzeugnisse in Augenschein zu nehmen, vorzüglich aber um einander zu besehen und sich selbst sehen zu lassen. Welch einen ungeheuern Vorrath von Gegenständen der Nothdurft und der Bequemlichkeit, des Luxus und der Armseligkeit, der Weisheit und der Thorheit, des tiefsten Forschungsgeistes und der tollsten Phantasie findet man hier neben und über einander beisammen! Hier ist ein Brennholzmagazin, dort eine Eisbude; hier ein Cabinet de lecture, darneben eine Decrottir-Anstalt; hier ein pensionat de jeunes demoiselles, gegen über ein allegorisches Magazin des papier peints. Hier wohnt ein Pastetenbäcker, der den Magen verdirbt, ihm zur Seite ein Apotheker, der ihn wieder curirt. Ein Juwelenhändler, herausgeputzt wie ein Reichsgraf, setzt, fast ohne ein Wort zu verlieren, in einer Viertelstunde für 60 000 Livres Perlen und Diamanten ab; während vor seiner Thür der Oblatenmann in einem, mit allen sieben Farben des Regenbogens geflickten Rocke sich vom Morgen bis zum Abend außer Athem schreit, um für 24 Sols von seiner Kleiderwaare zu vertreiben. Hier bietet ein reicher marchand de commestibles dem Gaumen alles dar, was Erde, Meer und Luft Wohlschmeckendes und Leckeres zu zollen vermögen – der schwelgerische Millionär geht ungerührt vorüber, weil er nichts findet, das seinen übersatten Magen antörnet – dort brätelt ein zerlumptes altes Weib in einer Pfanne, worin so eben Schuhwachs zerlassen zu seyn scheint, halbverfaulte Tische, deren stygische Atmosphäre gleichwohl den hungrigen Savoyarden herbeilockt und die letzten zwei Sols aus seiner schmutzigen Tasche hervorzusuchen nöthigt; in einem feuchten Erdgeschosse hat ein hagrer Buchhändler die tiefsinnigsten Producte des menschlichen Geistes ausgestellt; im prächtigen premier verkauft ein glänzend runder Marchand dʼhabits Maskeradenkleider; und über Laplaceʼs Mechanik des Himmels hängt ein Polichinell.
Wenn 50,000 Personen beiderlei Geschlechts, auf einer wüsten Insel von Allem entblößt, morgens plötzlich auf den Boulevard in Paris sich versetzt sähen, so würden sie daselbst vor Sonnenuntergang Alles finden, was Bedürfnis oder Laune ihnen nur immer wünschenswerth machen könnten.“

London und Paris, Bd. 26, 1811, 121–123.
Kommentar
Der anonyme Korrespondent ‚X.Y‘ beschreibt die geschliffenen Festungsanlagen geradezu als Inbegriff urbaner Lebens- und Konsumkultur. Obwohl er zunächst hervorhebt, die Orte seien nur mit einigen Abstrichen für Spaziergänge geeignet, betont er ebenso, dass dies weit hinter den vielfältigen Angeboten und den illustren Menschenmassen zurückstehe. Das Bild des Boulevards – das sich in der Beschreibungstechnik an Merciers Tableau de Paris anlehnt – ist folglich gleichbedeutend mit dem Bild der Metropole Paris an sich. Auf engstem Raum finden sich die verschiedensten urbanen Lebensformen und Produkte, die selbst „50,000 Personen beiderlei Geschlechts […] von Allem entblößt“ eine neue Lebensgrundlage geben könnten.
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