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Quellensammlung

Bilder einer Großstadt: Tableau und Panorama

Pückler-Muskau: Erneuertes London um 1830

3. Brief, den 5ten Oktober 1826

„Durch die neue Regent’s Street, Portland Place und den Regent’s Park hat die Stadt indes sehr gewonnen. Sie sieht nun erst in diesem Teil einer Residenz ähnlich, nicht mehr wie sonst einer bloßen unermeßlichen Haupstadt für shopkeepers, nach weiland Napoleons Ausdruck. Obgleich der arme Herr Nash (ein einflußreicher Architekt des Königs, von dem diese Meliorationen hauptsächlich herrühren) so übel von manchen Kunstkennern mitgenommen wird, und auch nicht zu leugnen ist, daß in seinen Gebäuden alle Stile untereinandergeworfen wurden und das Gemengsel oft mehr barock als genial erscheint, so ist ihm doch meines Erachtens die Nation vielen Dank dafür schuldig, so riesenmäßige Pläne zur Verschönerung ihrer Hauptstadt gefaßt und durchgeführt zu haben. Das meiste ist übrigens noch in petto, wird aber bei der allgemeinen Bauwut und dem vielen Geld der Engländer gewiß schnell ins Leben treten. In die Details muß man freilich nicht zu streng eingehen. So ist der Regent’s Street zum point de vue dienende Turm, der in einer Nadelspitze endet, und bei welchem Körper und Dach um Anfang und Ende zu streiten scheinen, eine seltsame architektonische Mißgeburt und nichts ergötzlicher als die darauf gemachte Karikatur, wo man Herrn Nash (ein sehr kleiner, verschrumpelt aussehender Mann) gestiefelt und gespornt, äußerst ähnlich abkonterfeit, und auf oben erwähnter Spitze reitend, angespießt sieht, mit der Unterschrift: National taste (wird ausgesprochen: Nashional).
Man könnte viele ähnliche Abnormitäten anführen. So sind unter anderem an einem Balkon, der den größten Palast am Regent’s Park ziert, vier plattgedrückte Gestalten an die Wand gequetscht, deren Bedeutung ein Rätsel bleibt. Ihr Kostüm gleicht einer Art Schlafrock, woraus man wenigstens schließen kann, daß Menschen damit gemeint sind. Vielleicht sind es Embleme für ein Lazarett, denn diesen scheinbaren Palästen ist, wie denen in Potsdam, auch nur Einheit und Ansehen durch die Fassaden gegeben, eigentlich bilden sie eine Menge schmaler Häuser, die zu allerlei Gewerbs- und anderen Zwecken wie hundert verschiedenen Eigentümern zur Wohnung dienen.
Tadellos ist dagegen die, auch von Herrn Nash ausgehende, ländliche Anlage in diesem Park, vorzüglich die Wasserpartie. Hier hat die Kunst das schwere Problem völlig gelöst, in scheinbar frei wirkender Natur nicht mehr bemerkt zu werden. Man glaubt, einen breiten Fluß weithin durch üppig bebuschte Ufer in die Ferne strömen und dort sich in mehrere Arme verteilen zu sehen, während man doch nur ein mühsam ausgegrabenes, stehendes und beschränktes, aber klares Wasser vor sich hat. Eine so reizende Landschaft wie diese, mit hervorragenden Hügeln in der Ferne und umgeben von einem meilenlangen Zirkel prachtvoller Gebäude, ist gewiß eine der Hauptstadt der Welt würdige Anlage und wird, wenn die jungen Bäume erst alte Riesen geworden sind, wohl kaum irgendwo ihresgleichen finden. Viele alten Straßen wurden, um alles dies zu schaffen, weggerissen, und seit zehn Jahren mehr als 60 000 neue Häuser in dieser Gegend der Stadt aufgebaut. Es ist, wie mich dünkt, eine besondere Schönheit der neuen Straßen, daß sie zwar breit sind, aber nicht durchaus in schnurgerader Linie gehen, sondern wie die Wege in einem Park zuweilen Biegungen machen, die ihre sonst nicht zu verhindernde Einförmigkeit unterbrechen. Erhält London noch Kais und wird die Paulskirche freigemacht, wie der talentvolle Obrist Trench projektiert hat, so wird sich keine Stadt an Pracht mit ihr messen können, wie sie schon jetzt jede andere an Größe übertrifft.
Unter den neuen Brücken steht die Waterloobrücke obenan, bei der die Unternehmer jedoch 300 000 Pfund verloren haben sollen. 1200 Fuß lang und mit einem gediegenen Geländer aus Granit versehen, dabei fast immer verhältnismäßig einsam, bietet sie einen anmutigen Spaziergang dar, mit den schönsten Flußaussichten auf ein stolzes Gemisch von Palästen, Brücken, Schiffen und Türmen, insofern nämlich der Nebel solche zu sehen gestattet.“

Hermann Fürst von Pückler-Muskau, Briefe eines Verstorbenen, hg. v. Heinz Ohff, Berlin 1986, 432f.
Kommentar
Pückler-Muskau hebt in seiner panoramatischen Darstellung der Londoner Innenstadt in erster Linie die zahlreichen Umbauten hervor, die unter Georg IV. im sogenannten Regency von John Nash durchgeführt wurden. Die weitgehende Umgestaltung des Stadtbilds würdigt der deutsche Beobachter dezidiert. Er hebt insbesondere die ästhetische Qualität der neuen Impressionen hervor. Nicht zuletzt der Regent’s Park, dem Pückler infolge seiner eigenen landschaftsplanerischen und gärtnerischen Tätigkeit besondere Aufmerksamkeit schenkt, sticht dabei heraus und führt dazu, dass Pückler-Muskau London zur prachtvollsten Stadt überhaupt erklärt.
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