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Quellensammlung

Bilder einer Großstadt: Tableau und Panorama

Arndt: Boulevards

„Es schlägt also zehn Uhr. Ich habe im Palais royal mein Frühstück eingenommen, und mancherlei Neuigkeiten, Ankündigungen und Anpreisungen drinnen und draußen an den Säulen gelesen. Von hier schlendre ich durch die Weiber des Krautmarkts, durch die Straße Traversiere zu den Thuilerien, wandre unter den noch stillen Bäumen des Gartens hin, gehe durch die lärmende Budengasse des Revolutionsplatzes, und durch die Hecken der haltenden Fiaker, und komme so an den Eingang der Boulevards. Ihr wisset schon, daß es hier Jahrmarkt ist, und wie es auf Jahrmärkten zu gehen pflegt. In der Mitte ist der Platz für die Fahrenden und Reiter, und selten leer von Getümmel und Staub, obgleich fleißig gesprengt wird. Zu den Seiten sind Häuser und Bäume, und unter und an und in ihnen stehen die Buden und gehen die Fußgänger. So führe ich euch den Platz noch einmal zu Gemüthe.
Man geht ein durch die kleine Revolutionsstraße, welche die herrlichen Gebäude, die sonst Garde-meubles hießen, zu beiden Seiten hat, wo nun das Marinedepartement und einige Sammlungen von unaufgestellten Kunstsachen sind. Hier hat man sogleich einen Prospekt bei’m Anfange der Boulevards linker Hand, den herrlichen Bau der Magdalenenkirche; aber es stehen erst die Grundfesten und die prächtigen Säulen, und wer weiß, ob die christliche Zeit je wiederkehren wird, wo man dies Gebäude nach dem entworfenen Plane aufführt? dann würde es allerdings die vornehmste Zier der Boulevards werden. Aber besser bleibt es so als Ruine stehen, um aus seiner jungen Pracht als Ruine zu verfallen. Wäre der Morgen nicht so heiter, wäre das Menschengewimmel nicht so lustig um mich her, wie könnte ich diesen Säulen, die mehr bewegende Beredsamkeit haben, als hundert bröckelnde Ruinen weiland herrlicher Palläste und Tempel, ohne Thränen vorübergehen? Ist wo ein Platz, in Paris, wo so viel für fühlende und menschliche Herzen wäre, als hier, wo die in stiller Erde modern, die einst das Schicksal der Welt bestimmen halfen?“
„So kömmt man im Gewimmel der müßiggehenden und gaffenden und spazierenden Pflastertreter und Staubmacher, und im Gedränge der erwerbenden, arbeitenden und geschäftigen Menschen zur Straße Montmartre. Von hier bis zur queerdurchschneidenden Gasse, rue Poissonnière, bleibt das Leben noch in demselben Geiste, doch steigt das Aeußere der Wohnungen und die Eleganz der Dinge und Menschen einige Stuffen hinab; aber mit der Nähe der rue Poissonnière mischt sich unter die elegante Welt mit Einem Male eine ganz fremdartige. Vorher saßen unter den Bäumen nur einzeln die Blumen- und Fruchtweiber, und machten durch ihre Kleidung und Innungsmiene und durch ihre Menge noch kein Aufsehen. Hier aber merkt sogleich, wer der Quartiere der Stadt und ihrer Bewohner auch noch nicht recht kundig ist, daß die Halle und der Markt der Unschuldigen hieher ihre Richtung und ihren Ausgang in die Boulevards haben, und daß die Halle à la Marée in der Nähe ist, so dick, so schmuzig und unverschämt werden schon die alten Unholdinnen, so gemein und vermischt die Kaffehäuser, so pöbelhaft und lärmend und grälend die Keller unten und die Gartenbalkons in der Luft. Dieses gemeine Leben mit den Ausflüssen und dem Zusammendrängen aller Gemeinheit und Lumpigkeit und Häßlichkeit, wodurch die feineren Weiber und Männer schnell hinfahren, wenn sie können, und scheu durchschlüpfen, geht so wachsend fort, bis zu den Ausgängen der beiden großen Straßen St. Denis und St. Martin. Nirgends aber ist es vielleicht auf den ganzen Boulevards für einen Fremden unterhaltender, still zu stehen und um sich zu schauen; nirgends ist die Jahrmarktsfreude und der Jubel so zusammengedrängt und lebendig, als hier. Durch die beiden stattlichen Thore der großen Straßen geht der Weg in die nördlichen Departements, nach den Niederlanden, Holland und der Schweiz, und Nord- und Südteutschland. Postwagen, Diligencen, Extraposten, Kärrner, Fiaker, Soldaten zu Pferde und Fuß, die ausmarschiren oder durchmarschiren, kommen hier oft hinter und gegen einander, und sperren den Stutzern und Stutzerinnen in Kaleschen und auf Rennern den Weg, und klemmen sie in einen erstickenden Staub ein. Es ist ein Treiben, Laufen, Schreien, Rücken, Stoßen und Fluchen, ein Zupfen, Rufen, Anrufen, Locken und Vermahnen, daß man kaum seines Bleibens weiß, wenn man auch nichts zu thun hat, als seine Person und seine Beine und Arme in Acht zu nehmen; denn hier ist alles zusammengetrieben und ausgeschüttet, was man sonst nur an besonderen Stellen findet. Hier findet man das Leben des ganzen Pont neuf und noch mehr wieder.“

Ernst Moritz Arndt, Reisen durch einen Theil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreiches 1798 und 1799, Bd. 4, Leipzig 1804, 125f; 135–137.
Kommentar
Ernst Moritz Arndts ausführliche Beschreibung der Pariser Boulevards lässt sich als Kernstück seiner Großstadtwahrnehmung auffassen. In einem sehr ausführlichen Kapitel zu den geschliffenen Festungsanlagen und nunmehrigen urbanen Versammlungsorten hebt er insbesondere in panoramatischer Weise die raumzeitliche Qualität seiner Beobachtungen hervor. Seinen Bericht strukturiert er nach verschiedenen Orten, die er zu unterschiedlichen Zeiten (mehrfach) besucht hat und gibt deren jeweilige Eigenschaften wieder. Indem er sie teils neben-, teils nacheinander positioniert, vermittelt er dem Lesepublikum ein Panorama des Boulevards, das sich vor allem durch eine Wahrnehmung auszeichnet, die zwischen Faszination und Schrecken oszilliert.
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