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Quellensammlung

Transgressionserfahrungen

London und Paris: Vauxhall

„Während der Zeit saß ein Theil der Anwesenden in den Logen des Gartens und an den Tischen der Säle, um zu schmausen. Eigentliche Genießer und Leute von gesetztem Alter finden es angenehmer, dem Gewühle von hier aus zuzusehen. Der Wein wird von vielen so häufig genossen, daß unruhige Köpfe nach Mitternacht etliche Trinkhausauftritte zum Besten geben. Daran fehlte es auch in dieser Nacht nicht.
Ohngeachtet der vielen Logen und Tische, gebrach es doch bei der Anwesenheit so vieler Tausende außerordentlich an Platz, um sich Erfrischungen reichen zu lassen. An zwei Orten des Gartens, wo man blos Wein und Bier verkauft, konnte kein rechtlicher Mann, besonders wenn er Frauenzimmer bei sich hatte, etwas bekommen, weil der Zudrang übermäßig war. Daher konnten gewiß drei Viertheile der Gegenwärtigen, selbst durch Versprechungen ansehnlicher Erkenntlichkeiten nicht einen Trunk zu ihrer Labung bekommen, wenn sie nicht sehr frühzeitig einen Platz in Beschlag genommen hatten. Ehedem war es gewöhnlich, daß Leute, welche im Vauxhall nichts verthun wollten, oder keinen Sitzraum fanden, eine kleine Zeit aus dem Garten giengen und sich in den nächsten Häusern für weniges Geld erfrischten; aber dies war diesen Abend dadurch unmöglich gemacht, daß Niemand Retourzeichen erhielt; gewiß keine Unbilligkeit, wenn man die beträchtlichen Unkosten einer solchen Anstalt überdenkt. Daß ein paar Menschen, die zum eigentlichen Volke gehörten, sich auf diesen Fall vorgesehen und Mundvorrath mitgenommen hatten, den sie in den dunkeln Gängen verzehrten, ist von keiner Bedeutung.
Die Menge der Gäste schien so beträchtlich, daß man sie auf zehntausend schätzte. Aber wie erstaunte man am folgenden Tage, als es durch die Zeitungen kund wurde, daß funfzehntausend gegenwärtig gewesen waren, wie sich aus der Einnahme am Eingange ergeben hatte. Außerdem drängten sich noch etliche hundert ohne zu bezahlen ein, weil der Menschenstrom unaufhaltsam wurde.
Etwas Gedränge ausgenommen, gieng im Garten alles mit leidlicher Ordnung zu, aber unbeschreiblich ist der Lärm, den die vielen Equipagen, Miethwagen und andere Fuhrwerke außerhalb machten. Ein solcher Wagentroß, ein so heilloser Spuk ist nur vor dem Londner Vauxhall anzutreffen. Da gab es Orgien aller Art: Kutscher, die sich schimpften und balgten; betrunkene Kutscher, die nicht hören konnten, daß man sie rufte; feile Weibsbilder der untersten Klasse ohne Zahl; Herumträger mit Branntwein, Labekuchen etc.; Taschendiebe in Menge; gemeine Kerls, die für ein paar Pence Kutschen ruften; Wagen, die an einander gerannt waren; umgeworfene und zerbrochene Kutschen; Konstables, die vergebens Ruhe herzustellen suchten; und endlich eine Menge geputzter, aus Vauxhall zurückkehrender Menschen, die ängstlich auf ihre Wagen warteten, und nur mit heiler Haut durch dieses Fegefeuer zu kommen wünschten. Man erfuhr Tags darauf, daß viele Herrschaften genöthigt waren, zu Fuße den weiten Weg bis an den ersten Fiackerstand zu gehen. Nur wenige konnten auf der nahen Themse ein Boot bekommen.
Doch wie die Londner und alle Großstädter sind! den meisten von ihnen, besonders den Weibern, ist so ein Gewühl in und außerhalb Vauxhall, nichts weniger als unangenehm. Je toller es hergeht, desto mehr „delightful“, „charming:“ nur muß es ihnen weder an den Staat, noch an die Person kommen.“

London und Paris, Bd. 15, 1805, 247–249.
Kommentar
Mit Vauxhall beschreibt Johann Christian Hüttner einen Ort, der gleichermaßen für Rückzug und Transgression stehen kann. Während die Vergnügungsanlage in anderen Berichten als idyllischer locus amoenus gezeichnet wird, steht im zitierten Bericht mehr die urbane Dimension im Zentrum. Hüttner betont ausdrücklich, wie sehr der Ort jüngst von tausenden Menschen besucht worden sei und in welcher Weise dies auch seine Wahrnehmung modifiziert habe. Bemerkenswert ist aber vor allem der Eindruck, den die Londonerinnen und Londoner dem Korrespondenten zufolge selbst haben. Das Gedränge im Garten stellt für sie scheinbar das Höchste der Gefühle dar – Menschenmenge und Verdichtung charakterisieren sie als „delightful“ und „charming“.
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