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Quellensammlung

Transgressionserfahrungen

Rebmann: Politischer Spaziergang durch Paris

„Ich begab mich auf die Terrasse der Tuilerie, welche an den Quai längst der Seine stößt, und fand hier mehrere Menschen, welche, wie ich, nicht Gedränge, sondern lieber ruhige Betrachtung von weitem zu lieben schienen. Mehrere Grenadiere des gesetzgebenden Korps hatten sich auf der Terrasse versammelt und teilten sich ihre Bemerkungen über das Fest mit. Mit vieler Freude fand ich sie sehr gerade und richtig und die Leute sehr republikanisch gesinnt. Ich mischte mich mit ins Gespräch und entdeckte unter ihnen zwei Landsleute. Wir sprachen lange und viel, als plötzlich gegenüber am entgegengesetzten Ufer der Seine der Knall von zwölf Kanonen uns verkündete, daß im nämlichen Augenblick die ersten Obrigkeiten eines freien Volkes den heiligen Eid des Hasses gegen die königliche und demagogische Anarchie ablegten. Von ferne hallten die Kanonen – ich glaube vorm Invalidenhause – nach. Ihr Krachen schien mir der Donner am siebenten Tage der Schöpfung, der ihre Vollendung bekanntmacht. Unwillkürlich schwiegen wir still, und jeder wiederholte im Herzen den Eid. Das sah ich an den Mienen meiner braven Leute. Die Wachen standen still und schlugen an ihr Gewehr. Betrachtungen über die Größe der Revolution, über Menschenkraft und Menschenschwachheit übermannten mich, ich schlug die Allee vor mir ein und befand mich bald auf dem Revolutionsplatze zwischen den beiden Pferden, wo Ludwigs XVI. Schafott stand und mit ihm, dem Schwachen, die letzte Hoffnung der Königsfreunde fiel.
Meine Einbildungskraft stellte mir den Totenzug dieses Opfers der Revolution vor, und ich stand, heiligen Schauers voll, auf der Erde, wo sowohl das Blut Ludwigs als auch das Blut der Edlen, welche – die Republik gestiftet hatten, der Märtyrer der heiligen Freiheit, vergossen wurde. Ihr Bild, majestätisch und erhaben, stand vor mir. Ich kehrte mich um und sahe gerade in den Eingang der Räte des ehemaligen Konvents und des Palastes, wo Ludwig einst geherrscht hatte. An einer solchen, in der Welt einzigen Stelle, an einem solchen Tage, vier Jahre nach solchen Begebenheiten – wer da stehn und nachher noch beschreiben kann, was er fühlt, der – hat nichts gefühlt. Der Menschheit Genius kämpfte hier mit Ariman seinen gräßlichsten Kampf. Die Schatten der Gefallenen schwebten um mich und forderten vom Weltenschöpfer ihrer Vollendung Preis. Die Erde, von Blute überall benetzt, bebte unter mir, Wolken umhüllten das Bild der Freiheitsgöttin, als plötzlich ein Strahl der Sonne auf sie fiel und das abermalige Krachen der Kanonen und die Musik des Abschiedsgesangs, welche vom Platz des 10ten Augusts hertönte, mich weckten.“

Georg Friedrich Rebmann, „Zeichnungen zu einem Gemälde des jetzigen Zustandes von Paris“, in: Werke und Briefe, Bd. 2, hg. v. Wolfgang Ritschel, Berlin 1990, 387–442, hier 399f.
Kommentar
Der verspätete Revolutionsreisende Georg Friedrich Rebmann nimmt bei seinen Pariser Erkundungen nicht zuletzt die politische Dimension des Stadtbilds in den Blick. Mit den Tuilerien und dem Place de la Concorde nimmt er Schauplätze ins Visier, die aufs Engste mit der Revolutionsgeschichte verbunden sind – gipfelnd in den zahlreichen Hinrichtungen (u. a. Ludwigs XVI.), die auf dem letztgenannten Platz stattgefunden hatten. Zentral ist vor allem die Wirkung, die dieser Spaziergang auf den Beobachter hat. Während er sich anfangs inmitten einer Menschenmenge befindet, führt der Gang über die einzelnen Schauplätze dazu, dass er in einen imaginativen Modus wechselt, der die Rahmung durch den Spaziergang zeitlich überlagert.
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