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Quellensammlung

Transgressionserfahrungen

Arndt: Boulevards

„Müde endlich aller Schauspiele, Schattenspiele, Gaukelspiele, Taschenspiele, mische ich mich in das unendliche Getümmel im Freien, was jetzt um zehn Uhr in diesen Revieren herrscht. Die Schauspiele sind geendigt, die Buden schließen sich und wandern, und sind theils schon vor einigen Stunden gewandert. Das Leben und Wimmeln wächst nun auf den Promenaden, in den öffentlichen Gärten, auf den Kaffehäusern, in den Kellern etc. Allenthalben werden die Lichter bei den wachsenden Menschenschaaren noch vermehrt, die dunklere Nacht zieht um das Himmelsgewölbe einen schwärzeren Schleier, die Erleuchtung zu erhöhen, und mit einem unbeschreiblichen Gefühle fliegt das Auge über den Menschenstrudel hin und sieht ihn in die unendliche Länge hinwallen, das Ohr wird von dem Wagenrasseln, den Trommeln und Flöten der Gärten und Erker, von dem Lachen, Locken, Girren und Rufen fröhlicher und verführerischer Menschen, wie von einem behexenden Sirenengesange hingerissen; selbst an dein Gefühl kommen mit weichen Händen und freundlichen Liebkosungen die Sirenen der Nacht, die in diesem Meere mit fortströmen. Jetzt hüte dich!
Nun geht es von einem Kaffehause ins andre. Alle wimmeln, alle sind fröhlich und munter. Nun fliegt man von Paphos nach Idalium, und von Idalium nach Tempe, und vom ewig grünen Tempe in den grand verger. Alles dieses sind Gärten in dieser Gegend, alle erleuchtet, alle voll Luft und Tanz und Menschen. Man giebt zum Eintritt eine Kleinigkeit von sechs bis acht Sols, die man obenein drinnen auf ein Billet, das man empfängt, vergütet erhält, wenn man Wein, Bier, Gefrornes und anderes zur Stärkung und Erfrischung fodert. Von diesen Gärten ist le grand verger rechter Hand der gemeinste und von dem untersten Gesindel beschwärmt; er ist aber auch der dunkelste und größte. Die andern drei links (ich gehe nemlich nun zurück, was vorher rechts war und die Stadtseite, ist nun links,) haben die anständigere Welt und die guten Bürger, nebst allem feineren Nachtgeflügel, was in diesen Revieren sumset und schwärmet. Sie sind wirklich ganz niedlich mit feinen Sälen und Pavillons, Lauben und Statuen, Grotten und Zelten, und prächtig erleuchteten Tanzplätzen, wo oft bis zwei, drei Uhr tief in die Nacht hinein gesprungen und gedahlt wird. Alles wimmelt und strömt über. Einige spielen Billard, andre spazieren, andre trinken, andre setzen sich mit einem gefühlvollen Herzen, das sich ihnen plötzlich aufthat, in eine Laube und Grotte, oder suchen unter einen Baum sich aus dem Getümmel zu retten, oder verlassen überall dieses Getümmel und entfliehen in die stillere Einsamkeit der Liebe. Doch nicht mehr hievon, ich werde bald mehr von den Gärten zu sagen haben, und in jene allgemeine Beschreibung werden sich auch diese einpassen lassen. Jeder hat freilich durch seine Lage und seine Gesellschaft etwas Besonderes, aber doch kann man von französischen Sachen und Menschen mehr, als von einer andern Nation, sagen: Wenn du einen kennst, kennst du alle. Ich verlasse also das Gartenleben, und bleibe vor einem Keller stehen. Welch ein Bacchanal ist da? Wie spielt und zecht und tanzt und klingelt man da mit den Bierkrügen und den Worten! Welche allerliebste Gruppen bilden sich da von allen denen, die um Mittag aus an dem Thore St. Denis sich um einige Sols so sauer werden ließen!“

Ernst Moritz Arndt, Reisen durch einen Theil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreiches 1798 und 1799, Bd. 3, Leipzig 1804, 153f.
Kommentar
In diesem Abschnitt zu den Pariser Boulevards hebt Ernst Moritz Arndt die ambivalente Qualität der anwesenden Menschenmassen und ihrer Verhaltensmuster hervor. Einerseits hegt er eine unverkennbare Begeisterung für das bunte, fast karnevalesk anmutende Treiben und konstatiert eine ebensolche gleichzeitig bei den Beobachteten. Nicht minder weist Arndt aber auch darauf hin, im Strudel des Boulevardtreibens könne selbst ein Unbeteiligter leicht mitgerissen werden und in einen urbanen Malstrom geraten. Die Textstelle steht demnach symptomatisch für das spannungsreiche Verhältnis von Teilnahme und Beobachtung, innerhalb dessen gerade Arndt eher zu einer passiven Beobachtung tendiert.
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