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Quellensammlung

Heterotopie der Zeit

London und Paris: London am Morgen

„Sie wünschen einmal einen Tag mit einer Londoner fashionablen Dame zu durchleben, um den Unterschied nach dem Teutschen Maaßstabe zu messen und zu bemerken, auf welche Seite die Zunge der Wagschaale sich hinneigt, so bald man die Lebensart vernünftig oder unvernünftig abwägen will. Es ist nicht Morgen vor 10 oder 11 Uhr, wenn gleich die Sonne brennend am Himmel steht; ja der Zuschnitt ist in London so eingewurzelt, daß selbst diejenigen Häuser, wo der Hausherr etwa wichtiger Geschäfte halber in die Gerichtshöfe, in das Haus of Commons u. s. w. fahren muß, oft in den Fall kommen, ihre Dienstboten zu verabschieden, weil sie den Zweck, um 9 Uhr zu frühstücken, so schwer erlangen können. Ich habe mir ein paarmal den Spaß gemacht, die schönen Maimorgen zu genießen, indem ich mit eignen hohen Händen, die Kette der Mahagonihausthür löste, und während alles im Hause im Todesschlaf lag, durch die stillen Straßen schlüpfte, um eine 2 Engl. Meilen weit wohnende Freundin zu wecken, und bei der Gelegenheit London im Morgenkleide zu sehen. Diese Frühstunden aber sind übrigens durch nichts anziehend, als durch die Art Freiheit, so ganz ungestört und unbemerkt in aller Ungebundenheit herumzuwandeln.“

London und Paris, Bd. 13, 1804, 311f.
Kommentar
Die Korrespondentin Nina d’Aubigny von Engelbrunner, die in London als Hauslehrerin tätig war, skizziert in ihrer Beschreibung nicht nur die besondere Qualität eines Londoner Morgens gegenüber dem restlichen Tag. Aus ihrer Schilderung wird vielmehr kontrastiv zu den anderen Textstellen klar, wie eine spazierende Wahrnehmung der Großstadt um 1800 durch Genderaspekte geprägt ist. Da Frauen, die unbegleitet über die Straßen gingen oder gar flanierten, in dieser Zeit in Verdacht gerieten, Prostituierte zu sein, ist es der Korrespondentin nur am frühen Morgen, im Schutz des Nicht-Beobachtetwerdens, möglich, ihre freiheitlich konnotierten Spaziergänge zu unternehmen.
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