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Quellensammlung

Heterotopie der Zeit

London und Paris: London am Sonntag II

„In großen Handelsstädten bleiben an Wochentagen manche Gegenstände unbemerkt, die des Sonntags auffallen. Die Woche hindurch ist alles in so unablässiger Bewegung, daß man vom Strome fortgerissen wird und nur das Menschengewühl wahrzunehmen Zeit hat. Wenn dies schon in andern Handelsörtern der Fall ist, wie viel mehr in London! Je mehr Reisende herkommen, desto öfter hören wir, daß sie nirgends in Europa eine solche Regsamkeit gesehen haben. Nein, es ist nicht Vergrößerungssucht, wenn man sagt, daß alles was das feste Land dieser Art darbietet, Spielerei gegen London ist. Man übergehe alles andre, man lasse den in seiner Art einzigen Haven außer Rechnung, und bedenke nur die unermeßliche Menge von Fuhrwerken und Reutern, die London von allen Seiten durchkreuzen und zu hundert Eingängen (denn Thore giebt es nicht) hereinkommen! Sodann wird das Auge in den meisten Straßen von den Kaufläden angezogen, von deren Reichthum, Mannichfaltigkeit und Pracht sich Niemand einen Begriff machen kann, der nicht in England gewesen ist. Aber diese sind des Sonntags geschlossen und das Fahren und Reuten ist sehr vermindert: man sieht nun London als Stadt, als ein Ganzes, das aus Häusern besteht. Sollte dem Leser dieser Eingang nicht schon unangenehm seyn, so erbitten wir uns seine geneigte Begleitung durch etliche Straßen dieser Hauptstadt an einem Sonntage im Mai nach einem Theegarten.
Es ist kaum glaublich, wie schnell sich die Straßen in London verändern und verschönern. Hier die große vor uns ist seit drei Jahren ganz modernisirt worden; es sind neue Läden eröffnet, man hat die Häuser erhöhet und viele ganz neu aufgebaut. Der Luxus reißt alles mit sich fort. Was für eine Verschwendung von Gold auf den, jetzt so groß gewordenen, Inschriften der Gewölbe! wie viele Läden haben, statt der ehemaligen Zeichen, einen Löwen, ein Lamm, eine Ananas, eine Büste, ein königliches Wappen, einen Luftballon, alle stark vergoldet! So war es nicht vor etlichen Jahren. Was die vielen neuen Häuser anlangt, diese sind wohl mehr eine Geburt der Nothwendigkeit, weil, wie der biedre, zu früh verblichene Küttner bemerkt hat, die Dauer der Englischen Häuser gleichsam auf den Tag berechnet wird.
Heute bemerken wir auch die Kinder mehr, als an einem Wochentage. Woher kommen die fast durchgängig blühenden Gesichter und die vom Gedeihen strotzenden Körper der Kinder in einer so verderbten Hauptstadt? was für verkümmerten Säuglingen, bleichen Knaben und Mädchen, frühen Krüppeln, Milch- und Wassergesichtchen begegnet man nicht in Paris, Berlin, Neapel und überhaupt in allen großen Städten!“

London und Paris, Bd. 14, 1804, 281f.
Kommentar
In einer Fortsetzung zu seinem bereits zwei Jahre früher erschienenen Bericht über das sonntägliche London konturiert der Korrespondent Johann Christian Hüttner die dazugehörigen Wahrnehmungen noch einmal präziser. Hatte er in seinem ersten Bericht mehr auf die allgemeine Qualität der Veränderungen abgehoben, verfeinert er diese nun: Insbesondere die architektonische Qualität des Stadtraums – samt seiner rasanten Veränderung – sowie die sonntags stärker bemerkbaren Stadtkinder rücken ins Zentrum seiner Wahrnehmungen.
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