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Quellensammlung

Heterotopie der Zeit

London und Paris: Quai de ferailles

„Es kann nicht fehlen, daß man in Paris immer auf etwas stößt, das eine Erwähnung verdient. Freilich sind die Nachrichten, die ich Ihnen von Zeit zu Zeit übersende, nicht gleich wichtig; allein jede derselben wird Ihnen jedoch einigermaaßen interessant seyn.
Wenn man in der Woche längs dem quai des ferailles hin gehet, so sieht man nichts als Eisenhändler aller Art und Gattung, Schuhmacher und Altreißer. Die letzteren verkaufen der armen Klasse der Einwohner alte Schuhe, die so wieder aufgeputzt und gewichset sind, als wenn sie ganz neu wären; allein wehe dem, der sich dadurch verführen läßt! denn kaum hat er sie einen einzigen Tag an den Füßen, als sie schon in Stücke zerfallen; weil gemeiniglich diese Gattung Altreißer mehr mit dem Leimtiegel als mit der Eckschaale arbeitet. Auf der einen Seite des Platzes stehen die Eisenhändler en gros in ihren Läden; allein auf der andern wird nichts verkauft als altes Eisen, z. B. Hammer, Zangen, Kaffeemühlen, Flintenläufte, Nägel, kurz alles was nur von Eisen gemacht wird. Für Leute, welche sich etabliren wollen, und nicht Vermögen genug besitzen, sich die eisernen Geräthschaften neu anzuschaffen, ist dieser Handelszweig sehr vortheilhaft, weil sie ihre Bedürfnisse oft mit dem Achtel an Geldeswerthe befriedigen können; es ist sich daher nicht zu verwundern, daß diese Gegend die ganze Woche hindurch stets von Menschen wimmelt; allein am Sonntage verändert sich auf einmal die ganze Szene so auffallend, daß ein Fremder, der am Sonnabend diesen Staaten zum erstenmal betreten hat, und dann den andern Tag darauf wieder dahin gehet, ohnmöglich glauben kann, diesen Weg schon einmal gemacht zu haben; denn nun sieht er hier keinen einzigen Eisenhändler mehr, sondern eine große Menge Tische mit allen Gattungen Speisen beladen, vor welchen eine kleine Welt Menschen steht, und speiset. Man glaubt sich, wie durch eine Zauberruthe, in eine große Messe versetzt zu sehen weil das Gedränge der Menschen außerordentlich groß ist. Alles ist beschäftigt, sich den Gaumen zu kützln; hier sind gebratene Hühner, Truthühner, Enten, Gänse, Nieren, gebackene Fische, u. s. w. allein was den komischsten Anblick gewährt, sind die Weiber, welche einen kleinen Ofen auf dem Bauche herumtragen, auf welchem ein eiserner Rost auf glühenden Kohlen liegt.“

London und Paris, Bd. 16, 1805, 157–159.
Kommentar
Der mutmaßlich aus der Feder Friedrich Theophil Wincklers stammende Text nimmt einen konkreten sonntäglichen Pariser Ort mit dem Quai de ferailles nahe der Pont Neuf in den Blick. Das um 1800 bedeutende Handelszentrum der „Eisenhändler […] Schuhmacher und Altreißer [gemeint sind Schuhflicker]“ beobachtet er dabei vornehmlich unter raumzeitlicher Perspektive. Er hebt hervor, an einem Sonntag sei der Ort im Grunde nicht wiederzuerkennen und ein unkundiger Fremder sei angesichts dessen nicht mehr in der Lage zu urteilen, ob er noch ein und denselben Ort besuche.
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