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Quellensammlung

Heterotopie der Zeit

London und Paris: Paris am Sonntag

„Unterdessen haben die Bewohner des Marais und der Vorstädte sich in ihren Sonntagsputz geworfen, und, wenn das Wetter nur irgend erträglich ist, nach den Quais, Boulevards und öffentlichen Gärten zu in Bewegung gesetzt. Mit dem guten Tone unbekannt, führt der Mann seine Ehehälfte am Arme, ein Kind an der Hand, und die erwachsenen Töchter wandeln fein sittsam vor den lieben Aeltern her. Der Wüstling aus dem Mittelpunkte der Stadt bewundert ihre gesunde, frische Farbe, und lächelt über ihr linkisches Wesen und ihre Kleidung, die, wie ihr Teint, mehr Anstand und Solidität als Mode verräth. Ist gerade große Parade, so geht der Zug nach dem Carousselplatze, um das schon zwanzig Mal Gesehene noch ein Mal anzustarren. Man ergötzt sich über den Glanz der Generale, den Schmuck des Leibmamelucken, die schöne Haltung der Truppen und zählt, wie oft die Soldaten vive lʼempereur rufen. Ist hier nichts mehr zu sehen, so schreitet man nach dem Tuileriengarten, um sich sehen zu lassen und Andere zu begaffen. In einem Nu füllen sich alle Stühle, so daß der Stutzer der Chaussée dʼAntin, der sonst deren drei gebraucht, um sich selbst, seinen mächtigen Hut und seine dürren Beine darauf zu legen, heute mit Einem fürlieb nehmen und folglich auf die Stellung, welche der gute Ton gebietet, für dies Mal Verzicht leisten muß. Nach und nach erscheinen, entweder aus Neugier oder aus langer Weile, auch einige Damen des eben genannten Quartiers, aber sehr nachlässig gekleidet, anzudeuten, daß sie der hier versammelten Gesellschaft durch ihre Gegenwart allein schon Ehre genug erzeigen. Auch vermeiden sie sorgfältig, sich zu setzen, sondern gehen mit schnellen Schritten nur ein paar Mal auf und ab, wie jemand, der sich schämt, sich heute hier blicken zu lassen.
Während man hier gafft, plaudert, Zeitungen liest oder gähnt, füllen sich die zahllosen Schenken und Kneipen an den Barrieren und in den nächsten Dörfern mit Gästen aus der untersten Volksklasse, denn die mittlere wagt sich noch nicht aus der Stadt, weil die Jahrszeit nicht weit genug vorgerückt und das Wetter noch zu unsicher ist. Tanz und Wein sind der große Magnet, welcher jene hinauszieht, zumal da der letzte dort mit weniger Abgaben beschwert und folglich ungleich wohlfeiler ist, als in Paris. Obgleich der Zulauf jetzt lange nicht mehr so groß ist, als während der Revolution, wo z. B. der berüchtigte Ramponneau, dessen Tabagie an der barrière blanche der Sammelplatz des Jan Hagels der ganzen Stadt war, täglich für 1500 bis 1800 Livres Wein (die Kanne zu 4 Sols) ausschenkte; so findet man hier doch immer noch eine unglaubliche Menge Volks beisammen: Handwerksgesellen, Soldaten, Packträger, Fuhrleute, Tagelöhner, Matrosen, Damen der Halle, Köchinnen, Dienstmägde, Kräuterweiber, Blumenmädchen u. s. w. u. s. w. Man schiebt Kegel, spielt Ball, läuft um die Wette, schaukelt sich, ißt, trinkt, lacht und schäkert. Jeder hat seine Jede, die er mit aller Artigkeit, deren er fähig ist, zu unterhalten und zu belustigen sucht. Alles spricht einen hier kräftig an, Küche, Keller, Späße, Arme, Waden, Busen, mit welcher letzten Naturgabe besonders die jungen Schönen der Halle zum Theil so reichlich ausgestattet sind, daß sie noch vier andere Personen ihres Geschlechts zur Gnüge damit versehen könnten.“
„Da sowohl die Quais, als die Boulevards Sonntags von Spaziergängern wimmeln, so pflegen viele der daselbst wohnenden Kaufleute, Galanteriehändler, Putzmacherinnen u. s. w. wenigstens bis um 4 Uhr Nachmittags ihre Läden offen zu halten. Zahllos ist aber die Menge der Kleinkrämer, Trödler, Hausirer und Schacherer aller Art, welche mit ihren tragbaren Gestellen den Weg beengen und mit ihrem Zetergeschrei die Vorübergehenden betäuben. Die meisten haben für alle ihre Waaren nur einen einzigen bestimmten Preis, den sie unaufhörlich dem Publikum entgegen brüllen. „Voilà la boutique à prix fixe! Voilà la boutique à 2 Sols, à 6 Sols, 12 Sols, 15 Sols, 30 Sols, 3 Livres u. s. w.!“ Zuweilen finden sich funfzehn bis zwanzig dieser Schreihälse auf einem Flecke von wenig Quadratruthen beisammen, wo denn einer den andern zu übertäuben sucht. Wehe dem unglücklichen Gelehrten, der in ihrer Nähe wohnt! Er mag nur gleich seinen Schreibtisch verschließen und Feierabend machen.
[…]
Um die Spaziergänger zu beschauen und sich von ihnen beschauen zu lassen, pflegt sich, theils mit eigenem, theils mit gemiethetem Gespann, Sonntags auch eine zahlreiche Menge Spazierfahrer und Reiter auf den Boulevards einzufinden; doch läßt die sogenannte vornehme Welt sich heute auch hier nur sparsam blicken; es müßte denn gerade im Carnaval seyn, wo man das Ansehen hat, als käme man nur, um sich über den Pöbel lustig zu machen, der doch am Ende zu nichts weiter zu gebrauchen steht.“

London und Paris, Bd. 23, 1810, 192–194; 197–199.
Kommentar
In einem sehr ausführlichen Bericht widmet sich der anonyme Korrespondent ‚X.Y.‘ den verschiedenen Implikationen, die der Pariser Sonntag mit sich bringt. Besonders fällt auf, in welchem Maße er dabei die soziale Stratifikation in den Blick nimmt. Deutlich lässt sich aus seinen Ausführungen daher auch ablesen, inwiefern die ruhetäglichen Praktiken zwischen gesellschaftlicher Funktionalisierung und Freiräumen schwanken. Während beispielsweise die „Bewohner des Marais und der Vorstädte“ versuchen, sich mittels Sonntagskleidung an bürgerlichen Spazierpraktiken zu beteiligen, widmet sich die „unterste Volksklasse“ Vergnügungen verschiedenster Art und lässt ihrem Spieltrieb freien Lauf.
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