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Quellensammlung

Gesellige Formen der Muße

London und Paris: Boulevard/Jardin de Türc

„Alle diese Siebensachen müssen nun freilich die schaulustige Welt herbeilocken. Einer kommt um des Andern willen; die Menge zieht die Menge herbei. Auch wird der Garten vom frühen Morgen bis um Mitternacht nicht einen Augenblick leer, obgleich bei weitem nicht Alle, die sich hier umhertreiben, etwas verzehren, sondern vielmehr die fleißigsten und meisten Spaziergänger für den Wirth taube Nüsse sind. Anders verhält sichs indessen mit den Spaziersitzern; denn man kann sich innerhalb des Gartens nicht wohl niederlassen sans prendre quelque chose, wärʼ es auch nur eine Flasche Bier, die hier 10, also 2 bis 3 Sols mehr, als in den meisten übrigen Kaffeehäusern, kostet. Der Lieblingssitz der Schönen, die keinen besonderen Bewegungsgrund haben, sich in eine der erwähnten Schattenlauben zurückzuziehen, ist immer die Terrasse am Boulevard, denn da können sie nach Herzenslust sehen, und sich sehen lassen. Auch lautet ihr Geflüster in dem Säuseln des überhängenden Gesträuchs weit melodischer, gesetzt auch, daß es sonst (welches in Paris eben nicht selten ist) etwas baßartig tönte, und mehr dem Murmeln einer halbverstopften Brunnenröhre, als dem Gelispel zarter, elastischer Schilfhalme gliche. Zur Bequemlichkeit derer, die ihr Vergnügen gern wohlfeileren Kaufes genießen, stehen vor dem Garten auf dem Boulevard in vier bis sechs Reihen einige hundert Strohstühle, worauf man für seine 2 Sols Stunden lang sitzen kann, sans rien prendre. Hier pflegen sich die ökonomischern Hausmütter der Vorstädte und des Marais vorzugsweise niederzulassen, und ihre sittsamen Töchter, wie die Gluckhenne ihre Küchlein, so dicht als möglich unter ihren Flügeln zu versammeln, damit nicht etwa ein liebenswürdiger Roué aus dem Mittelpunkte der Hauptstadt sich unter sie dränge, und sich die Mühe nähme, sie etwas manierlicher zu machen (dégourdir), wovon man, bei der nobeln éffronterie dieser Herrchen, und bei dem air bête mancher Demoisellen (deren Geist eben so willig, als das Fleisch schwach ist), gleichwohl nicht selten Beispiele hat.“

London und Paris, Bd. 28, 1812, 225–227.
Kommentar
Obwohl sich der am Boulevard du Temple gelegene Jardin de Türc (Türkischer Garten) seinem Namen nach als urbaner Rückzugsort ausnimmt, skizziert der anonyme Korrespondent ‚X.Y.‘ von Beginn an, inwiefern der Garten angesichts seiner Anlage und Popularität geflissentlich durch die Pariser Menschenmassen besucht wird. Von Interesse ist dabei nicht nur eine scheinbar eindeutige sozial-räumliche Unterteilung des Ortes – einzelnen Gruppen sind klare Areale zugewiesen –, sondern insbesondere die durch den Korrespondenten eingeführte Differenz von „Spaziergängern“ und „Spaziersitzern“. Das Spazieren als gesellschaftlich funktionalisierte Praktik wird hier folglich von seinem körperlichen Impetus gelöst und auf eine allgemeinere performative Ebene des Sehens, des Gesehenwerdens und der geselligen Konversation gehoben.
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