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Quellensammlung

Gesellige Formen der Muße

London und Paris: Tuileriengarten

„Man könnte diejenigen, welche den Tuileriengarten besuchen, um daselbst längere oder kürzere Zeit zu verweilen, in Spazier-Gänger und Spazier-Sitzer eintheilen, von welchen beiden Classen jede ihre, nach der besondern Absicht eines jeden Individuums auszuwählenden, bestimmten Plätze vorzuziehen pflegt. Die eigentlich so zu nennenden Wandler haben sich bei stillem Wetter die beiden Terrassen, welche den Garten auf der Nord- und Südseite einfassen, bei merklichem Luftzuge und vorzüglich Abends hingegen die in einer tiefern, geschütztern Lage zwischen beiden in der Mitte befindliche große Allee zugeeignet. Auf der Terrasse des Feuillans war indessen die Gesellschaft immer zahlreicher, als auf ihrer an der Westseite liegenden Nebenbuhlerin. Man ist nämlich bisher beschäftigt gewesen, einen unterirdischen Gang zu graben und zu wölben, der aus dem Pallaste nach dieser Terrasse führt, welche sich die Kaiserin zu ihren Spaziergängen mit dem jungen Kronprinzen, dem Könige von Rom, ausschließlich vorbehalten will. Andere behaupten, das Gewölbe solle die ganze Länge des Gartens hindurch unter der Erde fortlaufen, und sich im Westen desselben mit einer Thür endigen, die in der Gegend der Revolutionsbrücke auf den Quai des Tuileries gehen und folglich aus dem Schlosse unmittelbar ins Freie führen würde.
Das Non plus ultra des Genusses jedes ächten Pariser Lustwandlers ist aber die erwähnte große Allee, denn hier gränzt, wie schon die an derselben hinlaufenden 10 bis 12 Reihen Strohstühle beweisen, sein Gebiet an die Residenz der Spazier-Sitzer, deren bei weitem zahlreichere Hälfte weiblichen Geschlechts ist. Hier versammelt man sich, um zu sehen und sich sehen zu lassen, um über alle die wichtigen Dinge zu plaudern, wovon man vorher noch kein Wort weiß und beim Weggehen sich keiner Sylbe mehr erinnert, um, in dichten Reihen an einander gedrängt, in Gesellschaft und folglich angenehmer zu ersticken. Hier sitzt man nieder, um eine Bekanntschaft zu machen, die oft eben so viel werth ist, als der Stuhl, für welchen man zwei Sols bezahlt; um sich nach Jemandes Gesundheit zu erkundigen, die einem im Grunde sehr gleichgültig ist, kurz, um die Angel auszuwerfen, Netze auszustellen, auf dem Anstande zu lauern, und wie die weidmännischen Ausdrücke weiter heißen, die alle nur einen und denselben Gegenstand bezeichnen.“

London und Paris, Bd. 29, 1813, 105–107.
Kommentar
In einem Bericht des anonymen Korrespondenten ‚X.Y.‘ nimmt dieser mit dem Jardin des Tuileries die zweifelsohne wichtigste Pariser Gartenanlage um 1800 in den Blick. Der bedeutende öffentliche Versammlungsort dient dabei als prototypische Kulisse für die ambivalente Qualität von urbanen Spaziergangspraktiken. Die bemerkenswerte Differenzierung von „Spazier-Gängern“ und „Spazier-Sitzern“, die das gesellschaftlich-performative Momentum betont, ist dabei nur ein Aspekt. Die Formel „um zu sehen und sich sehen zu lassen“ verweist auf eine doppelte Perspektive: Während einerseits die Darstellung sozialer Rollen einen wesentlichen Aspekt darstellt, verweist sie gleichzeitig auf zufällig-kontingente Wahrnehmungsmuster, die sich nicht zuletzt auf der Ebene der Beobachterfigur einlösen können.
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