Logo Uni Freiburg

Gefördert durch

DFG-LogoMWK-Logo

Quellensammlung

Gesellige Formen der Muße

Pückler-Muskau: Fürstliches Alltagsleben in London

6. Brief, den 4ten [Dezember 1826]

„Doch ohne mich jetzt noch in allgemeine Bemerkungen zu früh einzulassen, will ich Dir kurz meine Lebensart hier in London beschreiben.
Ich stehe spät auf, lese, als halb nationalisierter Engländer, beim Frühstück drei bis vier Zeitungen, sehe nachher in meinem visiting book nach, welche Besuche ich zu machen habe und fahre diese dann entweder in meinem Cabriolet oder reite sie ab, wobei, selbst in der Stadt, zuweilen Pittoreskes mit unterläuft und namentlich die mit den Winternebeln kämpfende blutrote Sonne oft eine eigentümlich kühne und seltsame Beleuchtung hervorbringt. Sind die Besuche abgetan, so reite ich mehrere Stunden in der herrlichen Umgegend Londons spazieren, treffe mit der Dämmerung wieder ein, arbeite ein wenig, mache dann meine Toilette für das Diner, welches um 7 oder 8 Uhr stattfindet, und bringe den Rest des Abends entweder im Theater oder in einer gebetenen kleinen Gesellschaft zu. Die lächerlichen Routs, wo man kaum einen Platz auf der Treppe findet, den ganzen Abend stößt oder gestoßen wird, und sich stets in Treibhaustemperaturen befindet, haben noch nicht begonnen. Man kann aber in England, außer in wenigen der diplomatischen Häuser, abends sich nur da einfinden, wo man besonders eingeladen ist.
In diesen kleinen Gesellschaften geht es ziemlich ungeniert her, aber allgemeinere Konversation findet nicht statt, und gewöhnlich wählt sich jeder Herr eine Dame, die ihn vorzüglich interessiert, und verläßt sie fast den ganzen Abend nicht. Manche Schönen bleiben bei dieser Gelegenheit wohl auch ganz allein sitzen, ohne ein Wort sprechen zu können, verraten jedoch mit keiner Miene ihr Unbehagen darüber, denn sie sind sehr passiver Natur. Alle Welt spricht natürlich auch hier, tant bien que mal, französisch, aber auf die Länge ennuyiert die Damen doch die fortgesetzte Gêne, und man hat daher keinen geringen Vorteil, wenn man auch nur einigermaßen fertig englisch spricht. Ich habe nicht gefunden, daß die Damen einen fremden Akzent oder falsch angewendete Wörter und Phrasen, so wie man es den Männdern in England vorwirft, belachen. Im Gegenteil ist die Unterhaltung mit ihnen die sicherste und angenehmste Art, Englisch zu lernen. Ich bin überhaupt der Meinung, daß man Lehrer und Grammatik nur dann mit Nutzen braucht, wenn einem die neue Sprache durch die Praxis schon geläufig geworden ist. Nützlich aber mag es sein (wer die nötige Geduld dazu besitzt), wie der Fürst Czartoryski empfiehlt, damit anzufangen, den Dictionnaire auswendig zu lernen.
Du siehst, dieses Leben ist ein ziemliches far niente, wenn auch kein süßes für mich – denn ich liebe Gesellschaft nur im intimen Kreis und attachiere mich sehr schwer, jetzt beinahe gar nicht mehr, an neue Bekanntschaften. Der Ennui aber, der mich in solcher Stimmung überfällt, steht zu sehr auf meinem undiplomatischen Gesicht verzeichnet, um sich nicht auch, ansteckend wie das Gähnen, den anderen mitzuteilen.“

Hermann Fürst von Pückler-Muskau, Briefe eines Verstorbenen, hg. v. Heinz Ohff, Berlin 1986, 497f.
Kommentar
Hermann Fürst von Pückler-Muskau, der in erster Linie mit der Absicht nach England gefahren war, eine neue Frau zur Finanzierung seiner Landschaftsgärten zu finden, skizziert seinen prototypischen Tagesablauf in der englischen Hauptstadt. Es kristallisiert sich dabei ein dichotomes Verhältnis von individuellen und geselligen Aktivitäten heraus. Zwischen den Besuchen, die das „visiting book“ ihm vorgibt, und dem mehrstündigen (freiwilligen) Ausritt ergibt sich dabei eine klare Differenz. In der Beschreibung der geselligen adligen Abende spiegelt sich überdies erneut ein Spannungsfeld von Vergnügung und gesellschaftlicher Funktionalisierung. Pückler hebt schließlich hervor, das adlige Londoner Leben sei zwar ein „ziemliches far niente“, entspreche aber keineswegs seinen eigenen Wünschen.
© 2020 Universität Freiburg