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Quellensammlung

Gesellige Formen der Muße

Arndt: Palais Royal

„Die Gesellschaft nimmt nun wieder bis gegen zwei Uhr eher ab als zu, und nur einige alte Müssiggänger und kahlrückige Rentiers, die auf gewissen Kaffehäusern und unter ihren Bäumen permanent sind, sitzen und spazieren langsam umher, und geben nur einen schwachen Schein von Lebhaftigkeit. Nach zwei Uhr wächst die Menge immerfort bis gegen sechs. Man isset, man nimmt nach dem Essen einen Kaffe, man macht ein Spielchen zum Vergnügen, man spaziert. Einzelne Houris und anständige Weiber sind schon unter den Männern in den Zimmern und Säulengängen, und mancherlei Vorspiele lustigerer Unterhaltung und des Scherzes beginnen. Mit sechs Uhr öffnet sich die Oper und alle Theater, Gärten, Gaukelbühnen, und was irgend etwas Zeigbares und Darstellbares hat. Dies leitet einen Theil des Stromes ab, aber doch wird der Verlust mit dem Einbruch der abendlichen Zeit um neun Uhr mehr als ersetzt. Doch ich überspringe diese Zwischenräume, und komme zu der glänzendsten Tagesepoche, die etwa mit zehn Uhr Abends beginnt. Nun gießen die Theater einen großen Theil ihrer Menge aus, nun kömmt alles hervor, was betrügen und besiegen, was sehen und gesehen werden, was kaufen und verkaufen will. So wächst die Fluth bis gegen eilf Uhr, wo die prächtigsten Gärten auch einen Theil ihrer Menge abgeben. Die Fluth schwillt über, alle Zimmer sind gefüllt, die Menschen in den Hallen schieben sich nur durch, und endlich ist auch der Gartenplatz im Freien mit feinen und muntern Menschen bedeckt. Nichts geht sicher darüber, zu dieser Zeit in einem der schöneren Kaffehäuser zu sitzen, der fröhlichen Unterhaltung zu genießen, und die draußen vor sich vorbeiwallen zu sehen. Alle die Menschen, die hieher gehen, sind brauchbar zum Scherz und Gespräch, und wo man auch ist, einem ist wohl, wenn man nur ein munteres Herz mitgebracht hat. Doch soll seit der Revolution die Gesellschaft des Palais royal verloren haben, und selbst nach Schultz muß ich dies vermuthen. Vormals kam die reichere und gebildetere Welt fast nur ausschließend hieher, und hatte wenigstens einige Zufluchtsörter, wohin nicht jeder eindrang; jetzt ist alles gemeinschaftlich, und dadurch, wie Viele klagen, gemein geworden, und die noch auf alte Wohlanständigkeit halten, führen nicht zu jeder Tagesstunde ihre Frauen und Töchter hieher. Von dem Leben und Getümmel draußen und dem Herumziehen und Laufen in und außer den Hallen hat man gar keine Vorstellung, und kann auch keine davon machen. Alles bereitet in und an den herrlichen Säulengängen gegen diese Zeit den größten Glanz und Schimmer. Sorglos standen die Schneider, die Modenhändler, die Juweliere den größten Theil des Tages; jetzt erst scheinen sie zu thun zu haben; alles wird nun auf das zierlichste geordnet, ausgelegt, aufgehängt und erleuchtet, und der Schimmer so vieler Kostbarkeiten und Herrlichkeiten verblendet die Augen und durch sie die Herzen; alle Läden, Buden, Kaffehäuser, selbst Privatleute, die aus ihren Fenstern herabsehen, zünden mehr Lichter an, und das gewaltig strudelnde und glänzende Menschengewimmel, das Brausen und Sausen der Freude, die prächtige und widerschimmernde Erleuchtung machen das Ganze gleichsam zu einem Karneval, oder einer Maskerade. So schwimmt man, geblendet an Augen, betäubt an Ohren, gelockt, gezupft, gerufen von allen Seiten, in dem Wirbel mit um, und der Kälteste und Nüchternste hat sich hier wohl in Acht zu nehmen, daß er nicht als ein Betroffener heraustaumelt, oder fortgeleitet werde.“

Ernst Moritz Arndt, Reisen durch einen Theil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreiches 1798 und 1799, Bd. 4, Leipzig 1804, 77–79.
Kommentar
Wie so viele Parisreisende seiner Zeit stattet auch Ernst Moritz Arndt dem Palais Royal als einem der wichtigsten Versammlungsorte einen ausführlichen Besuch ab. Summarisch schildert er, wie ein prototypischer Tag dort abläuft und hebt insbesondere auf die seit der Revolution verstärkte gesellige Qualität des Palais ab. Aus seiner Darstellung wird zugleich deutlich, dass Arndt selbst nur einen bestimmten Typus des Geselligen für seine Wahrnehmungen präferiert. Während es ihm einen besonderen Genuss bereitet, von einem geschützten Kaffeehaus aus die wogende Menge zu beobachten, warnt er, skeptisch-distanziert, vor der eigentlichen (leiblichen) Erfahrung mit Menschenmassen.
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