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Quellensammlung

Gesellige Formen der Muße

Arndt: Tuileriengarten

„Von eilf Uhr bis drei Uhr Nachmittags, wo die Eßglocke die meisten wieder wegklingelt, beginnt an schönen Tagen der Zufluß, der nach den Umständen kürzer und länger dauert. Dann wird dieses Plätzchen mehr als das Palais royal, als die Bagatelle und Tivoli, der Tummelplatz der eigentlich vornehmen Welt, die meistens ungestört (denn die jakobinischen Händel dauerten nur einige Tage dieses Jahr) und anständig gemischt hier ihr Leben genießen kann. Wahrlich es giebt keine bequemere Zeit und keinen bequemern Platz, um das, was in Paris wirklich reitzend und liebenswürdig ist, wenigstens den feineren Ausschuß desselben, zu sehen. Hier war es, wo ich mehr als einmal gern den Vers des Baudeville auf das Palais royal ausgerufen hätte: ce jardin est plus, que toute la Cypre! Man bekömmt, ehe die Schatten einen Schleier über die Welt und vor den Augen ziehen, hier nichts Unholdes und Häßliches zu sehen, selten was Abgelebtes und Verwelktes. Wie sollten diejenigen, die ihren Reitzen nicht genug trauen, es auch wagen können, sich so vor dem unverschämten Sonnenstrahl allen Augen zur Beschauung, und den bekannten und boshaften Augen zur Vergleichung und Bespöttelung hinzusetzen? Hier sieht man die blühende und üppige weibliche Jugend der Großen und Reichen, hier selbst die unschuldige und bescheidene, – ein seltener Vogel in Paris – die sich nicht allenthalben öffentlich sehen lässt; hier setzen sich mit triefenden Haaren, noch frisch vom Bade kommend, die schönsten Nymphen, die noch zu stolz sind, sich von den andern Weibern hier durch etwas anders, als durch ihre Reize, und die studierte Kunst, sie geltend zu machen, zu unterscheiden. Nie sieht man auch die Französinnen geschmackvoller und niedlicher und verführerischer gekleidet und geschmückt, als hier. Das muß alles um zwölf und zwei Uhr noch Negligé seyn, ja Manche, die es auf ihre natürlichen Reitze wagen kann, und deren schöne Augen und Haare zu einem blassen und schmachtenden Gesichte wohl stehen, erscheint hier zum Aerger der umhersitzenden und rosenblühenden Schwestern gar ungefärbt. Wie die Blüthe der Weiber hier auftritt, so kann man auch die der Männer und Jünglinge oft sehen. Denn was soll hier thun, wer sich nicht bloß am Sehen und Hören vergnügen kann, wie Unsereiner, sondern noch irdischer genießen und seine Person spielen will, was soll der hier thun, wenn er nichts Darstellbares und Glänzendes mitbringt, entweder an seinem Leibe, als demselben angeheftet meine ich, eine hohe Würde, Ruhm und Ehre, oder in seinem Leibe, als in demselben inniger begriffen, Jugend, Schönheit, Witz, Gewandheit und andre Gaben, die entzücken! Alles ist ungezwungen, frei und lebendig, aber nichts laut, grob, oder Aufsehen erregend; so herrlich kann lange Ordnung und Sitte die wilden Leidenschaften einer Menge zügeln. Die einen spazieren die schönen Gänge unter den Bäumen entlang, oft auch im Freien auf die Thuilerien zu, die andern stehen und schwatzen und lächeln und machen sich so allmälig zum Sitzen bereit, sobald sie eine Gelegenheit offen sehen, wo sie gerne sitzen mögten, die dritten sitzen, doch so, daß in der Mitte und zu den Seiten eine Gasse für die Spazierenden bleibt, die diese Wege auch regelmäßig und mit der größten Artigkeit machen, ohne daß je ein Stoßen und Drängen entstände, wie es wohl mal bei einer solchen Versammlung möglich wäre; denn oft ist es so wimmelnd voll, daß die meisten bei’m Spazieren bleiben, oder sich auf die Stühle und Schultern von Bekannten lehnen müssen. In diesem Cirkel fühlt man es, welch ein zartes und wirklich liebenswürdiges Ding die feinere Geselligkeit ist. Wir Teutsche rühmen uns immer unsrer Ehrlichkeit und Geradheit; sie ist freilich das Erste im Leben, aber könnte etwas mehr Toleranz und Artigkeit im Umgange, die uns so sehr fehlen, nicht damit bestehen? An welchem Orte meines Vaterlandes wird man mir einen Haufen von Tausenden zeigen können, wo so jeder anständig gekleidete Mensch aus allen Ständen sich einfände, und nicht bald irgend eine Beleidigung und Mishelligkeit, und wenigstens ein Absondern und Winken und Zischeln vorfiele? Hier lacht, flüstert, spricht, winkt, umarmt, liebkost und begegnet man sich; man liest, man erhält und giebt Briefe, steht auf und kömmt wieder, und dies alles so fein, so still und unbemerkt, daß es keinen genirt und keinem auffällt. Einem Teutschen, der es so nicht gewohnt ist und dem es selten so gut wird, oft einer Gesellschaft zu genießen, worin der freie Ton neben dem feinen brüderlich besteht, wird hier oft um seine Brust als wüchsen ihm Adlersflügel, so leicht und entzückt fühlt er sich in diesem menschlichen Kreise, oft aber kann es ihm auch begegnen, daß er zufällig bei’m Sitzen eine Nachbarschaft erhält, die ihn in eine teutsche Verlegenheit setzt, weil er sich in ihrer Urbanität nicht heimisch genug fühlt, um es recht mit ihr aufnehmen zu können.“

Ernst Moritz Arndt, Reisen durch einen Theil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreiches 1798 und 1799, Bd. 4, Leipzig 1804, 85–88.
Kommentar
Auch Ernst Moritz Arndt ließ sich die wichtigste zeitgenössische Pariser Gartenanlage, den Tuileriengarten, nicht entgehen. Seine Beschreibung des Gartens ist eine der bemerkenswertesten Textstellen in seinem Reisebericht. Der später als politischer, anti-napoleonischer Agitator in den Befreiungskriegen und Franzosenhasser bekannt gewordene Schriftsteller ist in seiner Großstadtdarstellung voll des Lobes für die französische Geselligkeit. Im Tuileriengarten sieht er diese umfassend verwirklicht. Arndt gerät bei ihrer Beobachtung in nahezu dauerhaftes Schwärmen. Doch gerade im Vergleich vermeintlicher französischer und „teutscher“ Nationaleigenschaften kommt es zu einem harten Bruch: Als scheinbar rückständiger Deutscher fühlt Arndt sich nicht in der Lage, mit der französischen Geselligkeit zu konkurrieren, sodass deren Genuss auf eine externe Beobachtung beschränkt bleibt.
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