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Quellensammlung

Gesellige Formen der Muße

London und Paris: Whitechapel

„Besonders geht der Frühling mit seinen Naturfreuden gar leicht von uns Londonern unbemerkt und unbenutzt vorüber. Die Geschäfte häufen sich gewöhnlich um diese Jahreszeit, und binden uns an das Haus oder wenigstens an die Stadt, die Einladungen zu öffentlichen Vergnügungen vermehren sich auch, und die Besuche, welche unsere Freunde aus den Landstädten im Monat Mai als der lustigsten Zeit in London zu machen pflegen, nöthigen uns diesen Einladungen mehr Gehör zu geben, als wir vielleicht um unser selbst willen thun würden. Endlich schreckt uns auch die abwechselnde Witterung, die wir gewöhnlich bis zum Ende des Mais haben, ab, uns aus unsern Straßen zu entfernen, und wenn die Wärme von London uns drückend wird und uns auffordert, Erfrischung auf dem Lande zu suchen, finden wir gewöhnlich die Natur schon über ihre Jugend hinausgerückt.
Der schöne Frühling dieses Jahres hat uns schon manchmal ins Freie gelockt, und wir haben uns vorgenommen, die verschiedenen Gegenden der Nachbarschaft von London zu durchwandern. Vielleicht sind Ihren Lesern kurze Bemerkungen, die wir gemacht haben, so alltäglich sie auch an sich seyn mögen, nicht ganz uninteressant.
Heute wählten wir, ohne einen bestimmten Zweck zu haben, von der Altstadt aus eine nördliche Richtung. Diese führte uns durch Whitechapel. – Hier fanden wir die Fußwege ungewöhnlich mit Menschen angefüllt, und in der Fahrstraße eine große Menge mit grünem Laub und Zweigen bedeckter Wagen und Karren, deren Fuhrleute, mit Bändern geschmückt, alle Vorübergehende dringend einluden, ihre Fuhrwerke zu besteigen und für einen Lohn von einem oder zwei Pence eine Fahrt nach Bow zum Jahrmarkte zu machen. Dieser Jahrmarkt, der auf einer Wiese, ohngefähr drei englische Meilen von der Börse, gehalten wird, ist einer der berühmtesten in der Nähe von London, und die Tage desselben gehören für die niedere Classe in dem östlichen Theile der Stadt zu den festlichsten des Jahres. Nicht zwei Mägde begegnen an ihnen einander, ohne die Frage zu thun, ob sie zum Jahrmarkt gewesen sind, oder einander die Abenteuer ihres Besuchs zu erzählen. – Daß man hieher bloß geht um zu essen, zu trinken und sich lustig zu machen, nicht, um etwas zum Gebrauche einzukaufen, versteht sich von selbst, und man findet hier bis ins Detail die Scenen der Unterhaltung wieder, die auch die Jahrmärkte dieser Art in den meisten Gegenden Teutschlands auszeichnen. Pfefferkuchen und Zuckerbrodbuden, Spiele um allerlei Kleinigkeiten, herumziehende Comödianten, die ihre Buden aufgerichtet haben, und durch Harlequine, Possenreißer und lärmende Musik einladen, fremde Thiere oder Ungeheuer und Misgeburten, nebst Guckkasten aller Art für große und kleine Kinder. Zu den Lieblingsunterhaltungen des Volkes gehören dabei die Schaukeln, deren gewöhnlich eine große Menge aufgerichtet und die so eingerichtet sind, daß zwei einander gegenüber sitzende Personen sie ohne äußere Hülfe in Bewegung setzen und erhalten können, und eine Art von perpendikulärem Caroussel, in dem sechs bis acht Paare in verschiedenen sich schwingenden Kästen, wie von den Flügeln einer Windmühle oder einem hohen Rade zu einer beträchtlichen Höhe und im Kreise herumgeführt werden.“

London und Paris, Bd. 19, 1807, 194–196.
Kommentar
Im Rahmen eines Spaziergangs in die äußeren Bezirke Londons berichtet Johann Christian Hüttner auch über einen Ausflug nach Whitechapel, einem Stadtteil des East End, und schließlich zum Jahrmarkt von Bow. Obwohl sich der Beobachter damit bereits außerhalb der Stadtgrenze befindet, tritt die urbane Geselligkeit markant zu Tage. Hatte der Korrespondent eingangs noch angekündigt, sich der blühenden Natur jenseits der trist bebauten Stadt widmen zu wollen, konterkarieren der Jahrmarkt und die dort anwesenden Menschenmengen seinen Vorsatz. Was er erblicken kann, findet bei Hüttner freilich Anklang: Die ungezwungene Geselligkeit der Stadtbevölkerung ist ihm ein ebenso angenehmer Beobachtungsgegenstand wie die zahlreichen Unterhaltungsmöglichkeiten.
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