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Quellensammlung

Muße, Müßiggang und Arbeit

London und Paris: Paris allgemein

„Nirgends herrscht aber an diesem Tage früher Leben und Thätigkeit, als in den Tempeln des Sinnengenusses, das heißt, in den Kellern der Weinschenken, den Wohnungen der Kaffeewirthe, und den Küchen der Restaurateurs. Hier steht ein rubinrother Küper und zapft aus einem und demselben Fasse vin ordinaire, vin de Macon und vin de Beaune. Seiner Versicherung zufolge setzt er den Gästen oben in der Weinstube ein Gewächs vor, comme il nʼy en a pas dʼautre à Paris, wobei er sich dreist auf das Urtheil der Herren Kenner berufet, welche ihm ehrenhalber, obgleich mit etwas verzerrtem Gesichte, beistimmen. Dort sitzt vor der Thür des Kaffeehauses auf einer Fußbank ein garçon, schön frisirt, aber mit hangenden Strümpfen, und brennt in einer blechernen Trommel Arabiens aromatische Bohnen. Indem er die Maschine öffnet, um zu sehen, ob des langweiligen Rütteln und Schüttelns nicht bald genug ist, fallen von dem reichlich bestaubten Haupte ein paar Loth Puder hinein. Nʼimporte! Gebranntes Mehl schmeckt nicht viel anders, als gebrannter Kaffee. Er schlägt also den Deckel geschwind wieder zu, um das Geschäft zu beendigen. Unterdessen harren die Frühgäste des balsamischen Getränks, und zerlesen die Zeitungen, welche Abends einem Scheuerwische ähnlicher sehen werden, als einem Blatt Papier.
Wer sich eine Lust machen will, der gehe einmal Sonntags früh zu einem Restaurateur des zweiten oder dritten Ranges, wozu ein Déjeûné à la fourchette leicht den Vorwand giebt, und sehe dort das rege Leben und Weben. Sechs, acht und mehrere garçons schwänken die Gläser und Flaschen, putzen die Messer – die Gabeln sind von Silber und werden bloß abgewaschen – füllen die Salzfässer, Pfefferdosen, Senfbüchsen, Essig- und Oelgefäße u. s. w. Jeder erhält von der Dame des Hauses sein Kästchen voll silberner Bestecke, die ihm zugezählt werden, die er Abends wieder abliefern muß, und wovon jeder Verlust ihm allein zur Last fällt. Sie sorgt auch für hinlängliches Tischzeug, das sie entweder selbst in Verwahrung behält, oder einer eigenen Lingère übergiebt. Indessen führt der Hausherr, mit einer, jetzt noch ziemlich weißen, Schürze umgürtet, meistens als Oberkoch das Regiment in der Küche. Der Keller ist einem eigenen Küper übergeben, der über dessen Exporte und Importe Buch und Rechnung führen muß. Der Hauptschauplatz des Eifers und der Thätigkeit bleibt aber immer die Küche. Da liegt, steht und hängt umher Alles, was nur irgend zur Leibesnahrung dient, was sproßt und grünt, lebt und webt, kreucht und fleucht. Welch eine Menge geschäftiger Hände! Man wäscht Kräuter, schabt Wurzeln, häutet Kartoffeln, zerstückelt Fleisch (meistens ohne es zu waschen), stopft Geflügel, entschuppet Fische, weidet Wildpret aus, rührt Teige zu Pasteten, Torten und Kuchen an u. s. w. Daß dabei nicht wenig geschwatzt, gesungen und gepfiffen wird, versteht sich von selbst, denn es sind Franzosen, welche arbeiten.“

London und Paris, Bd. 23, 1810, 189–191.
Kommentar
In seinem umfangreichen Bericht über den Pariser Sonntag skizziert der anonyme Korrespondent ‚X.Y.‘ ein spannungsreiches Verhältnis von Muße, Müßiggang und Arbeit, das sich nach verschiedenen Personengruppen aufgliedern lässt. Zunächst beschreibt er, inwiefern mancherorts aufgrund der konsumwilligen Stadtbevölkerung gerade am Sonntag mehr Geschäftigkeit und Arbeit zu beobachten sei als in der gesamten restlichen Woche. Implizit rekurriert er damit aber auch auf die dort zu beobachtenden Gäste, die sich dem „Sinnengenuss“ hingeben und das kulinarische Angebot der Metropole genießen. Schließlich hebt er auf seine eigene Beobachterposition ab: Für den außenstehenden Fremden sei es indes der eigentliche Genuss, weder arbeitend noch müßiggängerisch am Geschehen teilzunehmen. Vielmehr böten die sonntäglichen Restaurants die Möglichkeit, das vielfältige Leben und Treiben der Großstadt zu beobachten.
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