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Quellensammlung

Muße, Müßiggang und Arbeit

Arndt: Pariser Alltagsleben

„Alles, was um einige Klassen höher steigt und bis zur höchsten und reichsten Welt hin, das setzt sich dann erst zum Mittagessen, wenn diese schon ihren Kaffe ausgetrunken und, welche die Ruhe lieben, ihren Nachmittagsschlummer gehalten haben. Ihre Zeit ist die zwischen vier und sechs Uhr Nachmittags, und auf diese Zeit ist auch der alltägliche Gang der meisten Geschäfte berechnet. Eine sehr vernünftige Einrichtung. Wie angstvoll und widerlich wird es wohl in Teutschland manchem Ehrenmann, wie nährt es wohl die Grillen im Kopfe und den Katzenjammer der Hypochondrie im Bauche, sogleich nach dem Essen in der größten Hitze des Tages wieder an das Schreibepult, den Sessionstisch und aufs Katheder zu gehen! und doch stellt man diesen Misbrauch nicht ab, der es doch offenbar ist für alle, die keine bewegende Lebensart führen. Was also in Paris kein Amt und keine Geschäfte hat, welche von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang durchaus fortschreitend sind, das hat eine feste und für alle ohne Unterschied sehr bequeme Lebensweise eingeführt. Alle öffentliche Büreaux, Kollegien und Aemter, alle größere Kaufleute, Banquiers und Händler und Unterhändler, alle Prokuratoren, Notarien und Avokaten haben ihr öffentliches Leben, wo man sie sprechen, mit ihnen unterhandeln und Geschäfte machen kann, oder wo man vor ihnen seine Geschäfte abmachen lassen muß, zwischen die Stunden von acht, neun Uhr Morgens bis vier Uhr Nachmittags eingeschlossen. Des Morgens fängt der eine früher, der andre später an zu arbeiten, doch selten jemand später, als zehn Uhr; aber mit dem Schlage vier Uhr muß in der Regel alles verschlossen und geschlossen seyn. Wie bequem und angenehm für Alte und Junge! Gerade die schönste Hälfte des Pariser Tages, den man von acht Uhr Morgens bis zwölf Uhr Nachts rechnen muß, behält dann ein jeder, auch der in eines andern Solde arbeitende, frei, jene schönste Hälfte, worin alle Freuden und Unterhaltungen der feineren und gebildeten Leute fallen, die Zeit des Glanzes der Promenaden, der Gärten, Schauspiele, Possenspiele und Liebesspiele. Nicht bloß die Staatsämter und Kollegien schließen sich um vier Uhr; nicht allein die Herren entlassen sich alsdann aus freier Machtvollkommenheit ihrer eignen Geschäfte; sondern auch alle Kommis, Schreiber, Komptoirbediente sind mit diesem Schlage frei und fließen mit in dem weiten Strome der Vergnügungen. Um sechs Uhr heben erst die Schauspiele an und die Lust der Gärten. Sie haben also zwei volle Stunden Zeit, zu Mittage zu essen, Kaffe zu trinken, ein Pfeifchen zu rauchen, ein kleines Gespräch, oder einen kleinen Spaziergang zu halten. Nach dieser vernünftigen Tageseintheilung der arbeitsamen und thätigen Klasse der Regierung und des Mittelstandes richten sich auch alle alte und junge Tagesdiebe und Müssiggänger, die hier entweder prächtig und lustig von ihrem Vermögen leben, oder die die Lust, zu genießen, zu sehen und zu gaunern hieher treibt.“

Ernst Moritz Arndt, Reisen durch einen Theil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreiches 1798 und 1799, Bd. 3, Leipzig 1804, 370f.
Kommentar
In einigen Kapiteln seines Reiseberichts widmet Ernst Moritz Arndt sich auch – maßgeblich aufgeschlüsselt nach gesellschaftlichen Gruppen und Schichten – den typischen Tagesabläufen der Bewohnerinnen und Bewohner. In seiner Darstellung der Oberschichten „bis zur höchsten und reichsten Welt hin“ betont er damit zusammenhängend insbesondere die klar dichotome Struktur des Pariser Alltags. Während zwischen dem späten Morgen und dem frühen Nachmittag die berufliche Geschäftigkeit dominiere, würden um Punkt vier Uhr alle entsprechenden Einrichtungen geschlossen und es beginne der vergnügliche Teil des Tages. Dann ergebe sich nämlich die „Zeit des Glanzes der Promenaden, der Gärten, Schauspiele, Possenspiele und Liebesspiele“.
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