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Quellensammlung

Muße, Müßiggang und Arbeit

Goethe: Neapel, den 28. Mai 1787: Müßiggang des Südens als Vorurteil des Nordens

„Der gute und so brauchbare Volkmann nötigt mich von Zeit zu Zeit von seiner Meinung abzugehen. Er spricht z. B. daß dreißig bis vierzig Tausend Müßiggänger in Neapel zu finden wären, und wer sprichts ihm nicht nach! Ich vermutete zwar sehr bald nach einiger erlangter Kenntnis des südlichen Zustandes daß dies wohl eine nordische Ansicht sein möchte, wo man jeden für einen Müßiggänger hält der sich nicht den ganzen Tag ängstlich abmüht. Ich wendete deshalb vorzügliche Aufmerksamkeit auf das Volk, es mochte sich bewegen oder in Ruhe verharren, und konnte zwar sehr viel übelgekleidete Menschen bemerken, aber keine unbeschäftigte.
Ich fragte deswegen einige Freunde nach den unzähligen Müßiggängern welche ich doch auch wollte kennen lernen; sie konnten mir aber solche eben so wenig zeigen, und so ging ich, weil die Untersuchung mit Betrachtung der Stadt genau zusammenhing, selbst auf die Jagd aus.
Ich fing an mich in dem ungeheuren Gewirre mit den verschiedenen Figuren bekannt zu machen, sie nach ihrer Gestalt, Kleidung, Betragen, Beschäftigung zu beurteilen und zu klassifizieren. Ich fand diese Operation hier leichter als irgendwo, weil der Mensch sich hier mehr selbst gelassen ist und sich seinem Stande auch äußerlich gemäß bezeigt.
Ich fing meine Beobachtung bei früher Tageszeit an, und alle die Menschen die ich hie und da still stehen oder ruhen fand waren Leute, deren Beruf es in dem Augenblick mit sich brachte.
Die Lastträger, die an verschiedenen Plätzen ihre privilegierten Stände haben und nur erwarten, bis sich jemand ihrer bedienen will; die Calessaren, ihre Knechte und Jungen, die bei den einspännigen Kaleschen, auf großen Plätzen stehen, ihre Pferde besorgen und einem jeden der sie verlangt zu Diensten sind; Schiffer, die auf dem Molo ihre Pfeife rauchen; Fischer, die an der Sonne liegen, weil vielleicht ein ungünstiger Wind weht, der ihnen auf das Meer auszufahren verbietet. Ich sah auch wohl noch so manche hin und wider gehen, doch trug meist ein jeder ein Zeichen seiner Tätigkeit mit sich. Von Bettlern war keiner zu bemerken als ganz alte, völlig unfähige und krüppelhafte Menschen. Je mehr ich mich umsah, je genauer ich beobachtete, desto weniger konnt' ich, weder von der geringen, noch von der mittlern Klasse, weder am Morgen, noch den größten Teil des Tages, ja von keinem Alter und Geschlecht eigentliche Müßiggänger finden.“

Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, hg. v. Christoph Michel/Hans-Georg Dewitz, Berlin 2011, 355f.
Kommentar
Goethe grenzt sich hier kritisch von jenen Wertungen über die Lazzaroni in Neapel ab, die er in seinem Reiseführer, Johann Jacob Volkmanns dreibändigem Werk Historisch-kritische Nachrichten von Italien (Leipzig 1770/71), nachlesen konnte. Im Gegenzug erhebt er den Anspruch auf eine differenzierte, den historisch-kulturellen Kontext sowie v. a. die klimatischen Bedingungen berücksichtigende Betrachtung des Volks und seiner Lebensweise. Diese Kontextualisierung bringt auch die vermeintlich festgefügte Abgrenzung von Arbeit, Muße und Müßiggang ins Wanken. Die inhaltliche Bestimmung und die normative Bewertung dieser Begriffe verlieren dann ihre vordergründige Eindeutigkeit, wenn man, zum einen, die eigenen Bewertungsmaßstäbe kritisch reflektiert, d. h. auf ihre kulturellen Prädispositionen hin befragt und damit relativiert, und, zum anderen, sich unvoreingenommen dem ‚Fremden‘ zuwendet. Diese doppelte Perspektive – die Relativierung des ‚Eigenen‘ und die zunächst einmal wertfreie Betrachtung des ‚Anderen‘ in seinem kulturellen Kontext – führt dazu, dass die Axiologie des Verhältnisses von Arbeit, Muße und Müßiggang in Bewegung gebracht wird. Konkret bedeutet das: Goethe kritisiert den postulierten Gegensatz von Arbeit und Müßiggang als ideologisches Konstrukt des protestantischen Nordens und weist damit die postulierte kulturübergreifende Gültigkeit der normativen Wertungen dieser Begriffe zurück.
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