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Quellensammlung

Muße, Müßiggang und Arbeit

Goethe: Neapel, den 28. Mai 1787: Arbeit als tätige Muße

„Ich würde zuweit aus meinem Wege gehen, wenn ich hier von der mannigfaltigen Krämerei sprechen wollte, welche man mit Vergnügen in Neapel, wie in jedem andern großen Orte bemerkt; allein ich muß doch hier von den Herumträgern sprechen, weil sie der letztern Klasse des Volks besonders angehören. Einige gehen herum mit Fäßchen Eiswasser Gläsern und Zitronen, um überall gleich Limonade machen zu können, einen Trank den auch der Geringste nicht zu entbehren vermag; andere mit Kredenztellern, auf welchen Flaschen mit verschiedenen Liqueuren und Spitzgläsern in hölzernen Ringen vor dem Fallen gesichert stehen; andere tragen Körbe allerlei Backwerks, Näscherei, Zitronen und anderes Obst umher und es scheint als wolle jeder das große Fest des Genusses, das in Neapel alle Tage gefeiert wird, mitgenießen und vermehren.“

Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, hg. v. Christoph Michel/Hans-Georg Dewitz, Berlin 2011, 358.
Kommentar
Goethe widerspricht der verbreiteten Gleichsetzung des vermeintlichen Müßiggangs in Neapel mit Nichtstun entschieden und schildert im Gegenzug ein buntes tätiges Treiben, bei dem der Gegensatz von Arbeit und Muße, so seine Projektion, gerade auch bei den untersten Schichten der Gesellschaft im Zeichen des Lebensgenusses aufgehoben wird. Unter der milden Sonne des fruchtbaren Südens verändert sich die Arbeit durch ihren spezifischen Rhythmus und ihre besondere Taktung. Diese Form von Arbeit hat nichts Mühseliges an sich. Sie erfüllt sich auch nicht rein funktionalistisch in ihrem äußeren Zweck.
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