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Quellensammlung

Muße, Müßiggang und Arbeit

Goethe: Neapel, den 28. Mai 1787: Arbeit um des Genießens willen

„Überhaupt würde jenes Paradoxon, welches ich oben gewagt habe, zu manchen Betrachtungen Anlaß geben, wenn jemand ein ausführliches Gemälde von Neapel zu schreiben unternehmen sollte; wozu denn freilich kein geringes Talent und manches Jahr Beobachtung erforderlich sein möchte. Man würde alsdann im Ganzen vielleicht bemerken, daß der sogenannte Lazarone nicht um ein Haar untätiger ist als alle übrigen Klassen, zugleich aber auch wahrnehmen, daß alle in ihrer Art nicht arbeiten um bloß zu leben, sondern um zu genießen, und daß sie sogar bei der Arbeit des Lebens froh werden wollen. Es erklärt sich hiedurch gar manches: daß die Handwerker beinahe durchaus gegen die nordischen Länder sehr zurück sind; daß Fabriken nicht zu Stande kommen; daß, außer Sachwaltern und Ärzten, in Verhältnis zu der großen Masse von Menschen wenig Gelehrsamkeit angetroffen wird, so verdiente Männer sich auch im einzelnen bemühen mögen; daß kein Maler der neapolitanischen Schule jemals gründlich gewesen und groß geworden ist; daß sich die Geistlichen im Müßiggange am wohlsten sein lassen, und auch die Großen ihre Güter meist nur in sinnlichen Freuden, Pracht und Zerstreuung genießen mögen.
Ich weiß wohl daß dies viel zu allgemein gesagt ist und daß die Charakterzüge jeder Klasse nur erst nach einer genauern Bekanntschaft und Beobachtung rein gezogen werden können, allein im Ganzen würde man doch, glaube ich, auf diese Resultate treffen.“

Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, hg. v. Christoph Michel/Hans-Georg Dewitz, Berlin 2011, 360f.
Kommentar
Als deutender Beobachter nimmt Goethe städtische Grundstrukturen wahr, die er als sinnhaft erlebt und beschreibt. Die kollektiven Praktiken, über die er sich hier äußert, formieren ein Integrationsmodell von Muße und Arbeit, das Tätigkeit, Gelassenheit und Genuss in ein harmonisches Gleichgewicht bringt. Der innere Wert der Arbeit besteht nicht in der Sozialdisziplinierung des Individuums, sondern im Lebensgenuss. Es wird gearbeitet, aber nicht um der Arbeit, sondern um des Genießens willen.
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