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Quellensammlung

Theatralität des Urbanen

London und Paris: Boulevards
„Man würde einen ziemlich dicken Band von allen den Auftritten schreiben können, die Einem in Zeit von drei Monaten auf dem Boulevard vor die Augen kommen. An schönen Tagen sieht man auf solchem die schöne Welt eben so gut, als in dem Garten der Tuilerien, und daher kommt es, daß sich alles dahin zieht, was einen ambulanten Handel treibt. Unter diese Classe gehören nun auch die Gaukler und Taschenspieler, und Taschendiebe, deren es hier, wie in London, eine Menge giebt. Es sind wirklich geschickte Leute darunter, die ihr Fingerspiel so gut studirt haben, daß sie selbst dem Bestohlnen Bewunderung abzwingen. Jeder der Taschenspieler hat etwas Besonderes, wodurch er die Leute an sich zu locken sucht, ehe er seine Kunststücke macht; allein einer von ihnen hatte sich vor einiger Zeit so bekannt gemacht, daß er das Stadtgespräch geworden ist, und folglich auch von uns erwähnt zu werden verdient.

Dieser Mensch hatte die Geduld, einen Hund, eine Katze und eine Ratte so zahm zu machen und abzurichten, daß sie mit einander im steten Kriege lebten, ohne jedoch einander etwas zu Leide zu thun. So läßt er zum Beispiel seinen Hund zuerst auf einen Tisch springen, und wenn dieses geschehen, so erhält die Katze den Befehl, den Feind aus der Batterie heraus zu treiben, welches auch nach einem kleinen, sehr komischen Treffen statt hat. Die Katze bewacht nun einige Zeit ihren Posten, während der Taschenspieler, seine Ratte stets auf dem Arme, die Zuschauer mit zweien oder dreien seiner Kunststücke unterhält. Hierauf redet er die Ratte an, und befiehlt ihr ebenfalls, den Feind in der Festung anzugreifen und zu verjagen. Auch dies geschieht; die Katze wird nach einem kurzen Gefechte von der Ratte gezwungen, ihren Posten zu verlassen und vom Tische hinab zu springen; allein kaum ist sie unten, so springt der kleine Pudelhund wieder hinauf und bindet von Neuem mit der Ratte an, die sich aber mächtig wehrt. Endlich erscheint auch die Katze wieder auf dem Schlachtfelde, allein Hund und Katze werden zuletzt von der Ratte (die ziemlich groß, und fett ist) unter immer lautem Jubelgeschrei der Zuschauer (unter denen sich öfters Leute von Stande befinden) aus ihrem Posten geschlagen und vom Tische hinunter getrieben. Dergleichen Schauspiele hat man hier viele und alle gratis; denn nur diejenigen bezahlen, die sich wahrsagen lassen (welches, ungeachtet eines über diesen Punct gegebenen scharfen Gesetzes, hier öffentlich und ohne alle Scheu geschieht), aber die verschiedene Recepte und Ingredienzien kaufen; als: die Flecke aus den Kleidern zu machen, die Metalle so hell wie Spiegel zu putzen, Kupfer und Messing zu versilbern, und hundert andere ähnliche Mittel mehr; ferner diejenigen, welche sich von Automaten Nummern sagen lassen, die sie in der Lotterie spielen wollen, oder ihre Zuflucht zu Glücksrädern nehmen, wo sie ihre Nummern selbst herausziehen können. Einer dieser Automaten ist besonders künstlich. Ein vergoldetes Frauenzimmer, im Costüme des Mädchens von Orleans, ist über einem Pappenhause angebracht, das verschiedene Fenster hat. Dieses Frauenzimmer hält einen Becher in der Hand, in welchen man eine Kugel wirft, worauf es solchen sogleich in eine trichterförmige Feueresse umstürzt. Sobald die Kugel einige Zeit im Hause herumgelaufen ist, und einen Ruhepunct gefunden hat, so öffnet sich ein Fensterladen, und man erblickt im Fenster diejenige Nummer, auf welcher die Kugel ruhet. Daß diese Nummern dann treulich gesetzt werden, versteht sich von selbst.
Geht man etwas weiter, so erblickt man eine ganz vortreffliche Nische von natürlichen Blumen, die auf einem großen Blumentopfe steht, und hier erblickt man zum größten Erstaunen zwei schöne Canarienvögel, ein Männchen und ein Weibchen, die mit unbeschnittenen Flügeln, und ohne an irgend ein Fädchen gebunden zu seyn, von einem Stängel zum andern hüpfen und sich liebkosen, ohne daß es ihnen, ob sie gleich in völliger Freiheit unter freiem Himmel sind, nur einfiele, davon zu fliegen. Dieser Anblick ist äußerst entzückend, auch wird dieser Platz von bewundernden Zuschauern gar nicht leer […].
Nähert man sich dem Boulevard St. Martin, so stößt man auf einen zwar ekelhaften Anblick, der aber dem Sachkenner ein herzliches Lachen abzwingt. Es ist nämlich Herrn Ferrantʼs Boutique, oder vielmehr Stall, wo er seine ausländischen Thiere fürʼs Geld sehen läßt, und vor welchem, außer der gewöhnlichen Abbildung dieser Thiere, die im höchsten Grade übertrieben und unnatürlich ist, auch noch eine Bärenkeule hängt, die so entsetzlich stinkt, daß man sich an diesem Orte nicht drei Minuten aufhalten kann, ohne gezwungen zu seyn, entweder zu fliehen, oder sich die Nase fest zuzuhalten. Was es mit dieser Bärenkeule für eine Bewandtniß habe, werden unsere Leser aus folgender unparteiischen Mittheilung ersehen.“

London und Paris, Bd. 20, 1807, 228–232.
Kommentar
Im Bericht eines anonymen Korrespondenten zeigt sich markant, dass gerade die Pariser Boulevards, die im späten 17. Jahrhundert geschliffenen Festungsanlagen, eine urbane Bühne für allerlei Beobachtungsgegenstände sein konnten. Der Berichterstatter schildert hier, dass die Anlagen, die neben dem Tuileriengarten einer der wichtigsten Versammlungsorte in Paris seien, dem außenstehenden Beobachter eine Vielzahl disparater Wahrnehmungen böten. Die Perspektive changiert zwischen zerstreuter sowie detaillierter Beobachtung und hebt schließlich darauf ab, dass auf den Boulevards für die Beobachterinnen und Beobachter mit jedem Schritt ein neues theatrales Erlebnis entstehen kann. Die ‚Theatralität des Urbanen‘ manifestiert sich somit auf zwei Ebenen: Sie besteht einerseits im Blick auf ein kontigentes oder zufälliges Geschehen, andererseits in der präzisen Wahrnehmung einzelner Vorkommnisse.
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