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Quellensammlung

Theatralität des Urbanen

London und Paris: Wien allgemein

„Auch in den Straßen gehen die Wiener und Wienerinnen viel spazieren. Besonders sind in dieser Rücksicht der Kohlmarkt und der Graben berühmt. Beide Gassen gehören zu den schönsten in Wien, wiewohl sie in Petersburg oder Berlin keine glänzende Figur machen würden. Aber in Wien sind es nicht die Steinmassen, die einer Straße Reiz und Annehmlichkeit geben, sondern die Menschen. Könnte ich Ihnen ein lebhaftes Bild entwerfen von dem hiesigen Gewühl auf den Gassen, Sie würden Unterhaltung dabei finden. Da reibt und drängt sich Alles an einander, Geschäftigkeit und Müßiggang, Alt und Jung, Adel und Pöbel, der Ungar, der Pohle, Croaten, Wallachen, Türken, Griechen, Italiener, Teutsche und Böhmen, – und mehrere dieser Landsleute, besonders die entfernteren morgenländischen, sehen Sie in ihrer Nationaltracht. – Da wandelt zierlich, nach der neuesten Pariser Mode gekleidet, eine Dame im eleganten Negligée, und wenige Schritte von ihr erblicken Sie einen slavakischen Bauern im zottigen Thierfell gehüllt, als ob er unser Ahnherr aus den Zeiten des Tacitus wäre. Da stößt ein Karrenschieber an einem geputzten Herren, der ihn nicht gewahr wird, weil er einer hübschen Köchin ins Gesicht sieht und ihr mit den Händen zu verstehen giebt, daß sie ihm gefalle; und die Köchin stößt an einen geistlichen Herrn, dem sie zu nahe auf den Leib rückt, weil sie der handgreiflichen Zudringlichkeit des Stutzers ausweichen will. Hier bückt sich ein demüthiger Beamte vor seinem Chef mit der Versicherung, sein „unterthänigster Knecht“ zu seyn; und neben beiden wirft ein Etourdi, der, mit Brillen auf der Nase, überall anrennt, einige Aepfel von dem Tische einer Obsthändlerin, wofür er als „blinder Schlankel“ begrüßt wird. – Dort trippelt ein zierliches Männchen in weißseidenen Strümpfen vorsichtig über die nassen Steine, und ein Officier vom Fuhrwesen tritt dicht neben ihm mit schweren Stiefeln in eine Pfütze und bespritzt das Männchen von oben bis unten. Dieses wird blutroth, sagt aber kein Wort, sondern geht zu einigen nebenstehenden Fiakern, um sich in einem Wagen mit seinen verunglückten Strümpfen zu verbergen. Die beiden vordern Fiaker zanken sich, wer ihn aufnehmen soll, und während er mit einem dritten davon fährt, werden diese handgemein. Ein stattlicher Ungar stellt sich vor ihnen hin, streicht sich den Schnauzbart und lacht aus vollem Halse über diesen kleinen Krieg. Einen vorübergehenden Landsmann ladet er ein, Theil an dem Schauspiele zu nehmen, indem er ruft: ecce amice, sibi in capillis sunt. – Sie wollen eine liebreichere Scene? Sehen Sie hier dies Madonnagesichtchen, das ein kecker Judenbursche verfolgt. Das liebe Kind schämt sich so schön zu seyn, und sieht sich nach Schutz um. Da stolpert glücklicher Weise ein Bauer, der mit aufgesperrtem Maule die Häuser angafft, über den Juden, so daß dieser auf einmal bescheiden wird, und das zarte Geschöpfchen ruhig fortgehen läßt. – Allerlei Raritäten sind zu sehen in diesem lebendigen Guckkasten.“

London und Paris, Bd. 25, 1811, 151–153.
Kommentar
Der von einem anonymen Korrespondenten „A.“ signierte Bericht über die Grundzüge der Wiener Lebenskultur um 1800 ist vorrangig durch ein gesellschaftliches Schau- und Wechselspiel geprägt. Der Berichterstatter legt von Beginn an Wert darauf, nicht die „Steinmassen“ würden die habsburgische Metropole attraktiv machen, „sondern die Menschen“. Ihr beobachtetes Zusammenleben und -wirken gestaltet sich anschließend als ein ambivalentes Gemenge von sozialer Ungleichheit und öffentlicher Gleichheit. Zwar stilisiert der Korrespondent in seiner Darstellung ein unmittelbares räumlich-praktisches Nebeneinander von ‚Oben‘ und ‚Unten‘, zugleich werden die gesellschaftlichen Unterschiede innerhalb dieser Beobachtung aber nicht aufgehoben. Simultan dazu entwickelt sich aus dem öffentlichen Aufeinandertreffen verschiedenster Personengruppen für den Berichterstatter aber auch ein spezifisches Beobachtungspotenzial: Ganz unterschiedliche urbane Szenen gestalten sich nebeneinander aus und sorgen dafür, dass der Blick „in diesem lebendigen Guckkasten“ schweifen kann.
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