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Quellensammlung

Theatralität des Urbanen

Rebmann: Boulevards

„Wenn jemand von einer Erschöpfung der Stadt Paris von Menschen radotiert, so hat man weiter nichts nötig, als ihn an einem Dekaden- oder Sonntage durch die Tuilerien, durch die Elysäischen Felder und auf die Boulevards zu führen. Ich will mich mit meinem Kopfe anheischig machen, binnen vier bis fünf Stunden eine Armee von 30 000 jungen Menschen zu liefern, ohne einem Vater seinen einzigen Sohn oder einem Arbeiter seinen nötigen Gehülfen zu nehmen. Meine Armee rekrutiere ich ganz allein aus Angebenden, falschen Spielern, Maquereaux, Agioteurs der schlimmsten Art und Glücksrittern.
Diese Boulevards machen den gewöhnlichsten Spaziergang der schönen Welt aus, so wie sich hingegen auf der andern Seite die sansculottische Welt den Quai zu ihrem hauptsächlichsten Sammelplatz erwählt hat. Vom Magdalenenkirchhof anzufangen, stellen die Boulevards eine Fortsetzung des Palais Egalité vor, denn links sind Kramladen und Kaffeehäuser, rechts Theater und in der Mitte Spaziergänge, davon man die elegantesten in der Gegend antrifft, welche Klein-Koblenz genannt wird.
Es ist eine wahre Freude, hier die unendliche Menge von Schauspielen aller Art zu sehen, die sich für jede Menschenklasse darbieten. Vom Italienischen Theater an, wo Martin singt, bis gegen die Vorstadt St-Antoine hin reiht sich ein Schauspiel an das andre, und wenn auch zwei Männchen, die Purzelbaum machen, alles sein sollte, was hier oder da zu sehen ist, so findet der Entrepreneur doch sicher ein Publikum an einigen Poissarden und Wasserträgern, das einige Liards für Circenses anwendet.
Die hiesigen größern Schauspiele werden mir Stoff zu einem langen Briefe geben. Ich will hier nur ein kleines Gemälde der Welt auf den Boulevards geben und die Buden durchgehn, welche sich hier, nur natürlich in größerer Menge, ungefähr so aneinanderreihn wie auf dem Wege von Hamburg nach Altona. Alles hat man bei dieser Nation gewonnen, sobald man ihre Aufmerksamkeit durch etwas Auffallendes, Neues, Schreiendes zu reizen weiß. Alles muß in Phrases gehüllt sein, und die nützlichste Erfindung, die beste Anstalt geht verloren, wenn in der Ankündigung gefehlt ist.
Daher hört man auch nirgendwo lächerlichere Annoncen als hier. Auf diesen Boulevards unter andern sah ich einen Mann, welcher mit einer großen Trompete umherging und eine fürs Vaterland äußerst wichtige Entdeckung ankündigte. Ich glaubte schon, er wolle eine neue Verschwörung bekanntmachen, und siehe da! es war, ich weiß nicht ob Gift oder ein Kraut gegen Ratten und Mäuse, was er feilbot. Wo in der Welt kündigt man das mit solchen Phrasen an als hier!
Quacksalber reiten und fahren, zur Ehre der Polizei, hier an allen Ecken und preisen ihre Ware an. Unter und neben ihnen stehn Bänkelsänger, welche erst immer den Inhalt jeder Strophe ihrer Romanzen ablesen und dann mit Begleitung einer Violine, die meistens von einem Blinden gespielt wird, absingen, Marionettenkrämer, Hundeballettmeister, optische Kästen etc. etc. Zwischen alle diesem Lärmen schreien die Journalverkäufer ihre Überschriften oder ihre Sitzungen der Räte in Vaudeville, die kleinen Krämer ihr: „Cinquante sous la pièce!“, und die Freudenmädchen zischeln ihr „Bst! Bst!“ dem Vorübergehenden in die Ohren. Während diese Ankündiger auf das Gehör der Vorübergehenden würken, suchen andere dem Publikum ins Gesicht zu fallen.“

Georg Friedrich Rebmann, „Holland und Frankreich, in Briefen geschrieben auf einer Reise von der Niederelbe nach Paris im Jahr 1796 und dem fünften der französischen Republik“, in: Werke und Briefe, Bd. 2, hg. v. Wolfgang Ritschel, Berlin 1990, 169–385, hier 279f.
Kommentar
Auch Georg Friedrich Rebmann widmet sich auf seiner politischen Erkundungsreise durch Paris den Boulevards und den mit ihnen verbundenen „Schauspielen“ auf verschiedene Weise. In seiner Darstellung ist der Begriff ‚Schauspiel‘ doppelt gewendet, insofern er zunächst einmal dezidiert auf die Theater und andere Schauspiele verweist, die sich an und auf den Boulevards besuchen lassen. In einem zweiten Schritt jedoch erweitert sich das Verständnis, und Rebmann nimmt unter dieser Perspektive auch die vielen Schau- und Verkaufsbuden in den Blick, die sich innerhalb der weiten Anlagen finden. Seine Beobachtung wird dabei explizit durch eine national-vergleichende Dimension strukturiert: Die Boulevardsbuden erstrecken sich über eine Länge, die der aus Altona nach Paris gereiste Rebmann aus dem eigenen Land nur als Entfernung zwischen zwei damals noch eigenständigen Städten kennt.
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