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Quellensammlung

Theatralität des Urbanen

Goethe: Venedig, den 4. Oktober [1786]: Das Theatralische des sozialen Lebens

„Gestern war ich in der Komödie, Theater St. Lucas, die mir viel Freude gemacht hat, ich sah ein extemporiertes Stück in Masken, mit viel Naturell, Energie und Bravour aufgeführt. Freilich sind sie nicht alle gleich; der Pantalon sehr brav, die eine Frau stark und wohlgebaut, keine außerordentliche Schauspielerin, spricht exzellent und weiß sich zu betragen. Ein tolles Sujet, demjenigen ähnlich, das bei uns unter dem Titel: der Verschlag behandelt ist. Mit unglaublicher Abwechslung unterhielt es mehr als drei Stunden. Doch ist auch hier das Volk wieder die Base worauf dies alles ruht, die Zuschauer spielen mit und die Menge verschmilzt mit dem Theater in ein Ganzes. Den Tag über auf dem Platz und am Ufer, auf den Gondeln und im Palast, der Käufer und Verkäufer, der Bettler, der Schiffer, die Nachbarin, der Advokat und sein Gegner, alles lebt und treibt, und läßt es sich angelegen sein, spricht und beteuert, schreit und bietet aus, singt und spielt, flucht und lärmt. Und Abends gehen sie inʼs Theater und sehen und hören das Leben ihres Tages, künstlich zusammengestellt, artiger aufgestutzt, mit Märchen durchflochten, durch Masken von der Wirklichkeit abgerückt, durch Sitten genähert. Hierüber freun sie sich kindisch, schreien wieder, klatschen und lärmen. Von Tag zu Nacht, ja von Mitternacht zu Mitternacht ist immer alles ebendasselbe.
Ich habe aber auch nicht leicht natürlicher agieren sehen, als jene Masken, so wie es nur bei einem ausgezeichnet glücklichen Naturell durch längere Übung erreicht werden kann.
Da ich das schreibe, machen sie einen gewaltigen Lärm auf dem Kanal, unter meinem Fenster, und Mitternacht ist vorbei. Sie haben im Guten und Bösen immer etwas zusammen.“

Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, hg. v. Christoph Michel/Hans-Georg Dewitz, Berlin 2011, 83f.
Kommentar
In Venedig nimmt Goethe ein zentrales Merkmal des öffentlichen Lebens wahr: das Theatralische. In der Lagunenstadt durchdringen sich soziales Leben und (Masken-)Spiel. Der diagnostizierte spielerisch-theatralische Grundzug des öffentlichen Lebens löst auf seine Weise scharf gezogene Grenzen zwischen Arbeit, Muße und Müßiggang auf. Die v. a. klimatisch bedingte Zeittaktung, die sich grundlegend von der des kalten Nordens unterscheidet, führt tendenziell dasjenige zusammen, was andernorts streng getrennt ist. Das Spielerische durchdringt die Arbeit, die so ihre eigenen Formen ausbildet, die sich von jenen des Nordens grundlegend unterscheiden. Wenn das Schauspielerische und Theatralische auf diese Weise habitualisiert wird, gerät die gesamte Stadt zu einer Bühne, auf der alle eine bestimmte Rolle übernehmen.
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