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Quellensammlung

Raumzeitlichkeit urbaner Muße

London und Paris: Tor St. Denis/Boulevard

„Während vom Thore St. Denis an bis nach der Halle hinunter, allmählich Leben und Thätigkeit zu erwachen beginnen, der Gewürzkrämer, in Nachtmütze und Pantoffeln, gähnend seinen Laden öffnet, der Weischenke in der noch verschlossenen Kneipe, ohne Zeugen und Municipalität, den ungestümen Bachus mit der friedlichen Seine vermählt, und die Bäckerin, andächtig ihr Morgenlied singend, bei verriegelter Thür, die zur Ausstellung bestimmten Brote aussucht, welche die Polizei kühnlich wägen mag; während hier die Glut der Schmiede wie ein Nordlicht an den benachbarten Häusern hinauf scheint, und die Tritte der Fußgänger allmählich von dem Rasseln der Wägen übertäubt werden, herrschen in den Seitenstraßen noch immer Nacht und tiefe Stille, so daß die Katzen, die doch sonst das mindeste Geräusch verscheucht, ihre zärtlichen Elegien mitten auf der Gasse anstimmen. Nur hier und da hinter dem dick bestaubten Fenster eines Pferdestalls oder einer Küche blinkt ein mattes Lämpchen auf; ein Portier, durch das Alter schlaflos gemacht, öffnet die Hausthür und kommt mit dem Besen zum Vorschein, um die Gosse auszufegen und weit umher eine stygische Atmosphäre zu verbreiten. Da und dort klopft an der Thür oder dem Fensterladen eines kleinen Hauses ein Handwerksgesell; aber er klopft leise, denn er will bloß den Meister, nicht aber dessen Frau und Kinder wecken, wohl wissend, daß Madame keine Freundin der Morgenröthe ist, und die kleine Familie sich noch immer früh genug unnütz machen wird.
Auf den nahen, freier gelegenen Boulevards, fängt indessen, sowohl der bürgerliche, als der natürliche Tag schon an zu grauen. Schon zieht eine lange Reihe vier- und fünfspänniger plumper Blockkarren langsam nach der Vorstadt zu, um aus den Eingeweiden des Montmartre Palläste, Monumente und Kirchthürme, oder vielmehr die ungeheuren Quader zu holen, woraus alle diese Prachtwerke hier erbauet werden. Neben jedem Karren schreitet, in blauem Kittel und grauem Filzhute, ein stämmiger Knecht, seine Morgenandacht verrichtend, das heißt, aus allen Leibeskräften mit der Peitsche knallend. Die riesenhaften Pferde, an diese Melodie gewöhnt, gehen darum nicht geschwinder. Aber das ist auch nicht seine Absicht; er knallet bloß, um den Charakter des gemeinen Mannes in Paris zu behaupten, der, bei jeder Arbeit viel Geschwätz, Lärm und Geschrei macht. Wer ihn nicht beschäftigt sieht, soll ihn wenigstens hören.“

„Wenn das Gewühl der Straßen nachmittags sichtbarer wird, so ist es dagegen in den Frühstunden ungleich hörbarer. Viele tausend noch ungesättigte Kehlen – der Schornsteinfeger und das Fischweib, der Scheerenschleifer und die Käsefrau, der Wasserträger und die Lumpensammlerin, der Schuhflicker und die Prezeldame, der Kartoffelnmann und das Obstmädchen, der Rebhühner-Händler und die Blumendirne u. s. w. u. s. w. – schreien auf einander los und mit einander um die Wette; die Männer im Discant, die Weiber im Baß; jeder und jede sucht sich durch einen eigenen Zetergesang auszuzeichnen, und man hört, besonders in der volkreichen Nachbarschaft des Palais-Royal, oft Trios und Quartette, die auch das geduldigste Trommelfell zerreißen möchten. Niemand setzt indessen demselben ärger zu, als das alte Weib, welches dort mit einem großen Korbe am Arm durch die Straße des bons enfans zieht – wo ich mich, mit Erlaubniß des Lesers, sogleich in einen Fiaker setzen werde, um meinen Morgenspaziergang zu endigen – und das, alle Dissonanzen durchmodulirend, mit einer Stimme, durchdringend und lieblich, wie das Trillen einer rostigen Wetterfahne, unablässig krächzt: „Voilà le Plaisir des Dames, voilà le Plaisir! Auch schreit sie nicht vergebens. Man sehe nur, wie die Kindermägde von allen Seiten herbei eilen, um dieses Plaisirs theilhaftig zu werden. Ein junger Mensch kauft sogar eine ganze Hand voll und will damit in ein Haus schlüpfen. Aber plötzlich springen zwei handfeste Männer hinter der Thür hervor, fassen ihn mit den Worten: „Endlich haben wir Dich!“ beim Kragen und schleppen ihn zum nächsten Polizei-Commissär.“

London und Paris, Bd. 23, 1810, 70–72; 86f.
Kommentar
In London und Paris verdeutlicht der anonyme Korrespondent ‚X.Y.‘, in welchem engen Verhältnis räumliche und zeitliche Komponenten bei der Beobachtung des frühen Pariser Morgens stehen können. Diese Art der Wahrnehmung verfügt dabei über gleich zwei Ebenen: Einerseits rückt der Korrespondent einzelne Örtlichkeiten in den Mittelpunkt und beschreibt ihre tageszeitliche Veränderung, die sich für den Berichterstatter als eine Vielzahl von einander abwechselnden Beobachtungsgegenständen niederschlägt. Gleichzeitig nimmt er aber auch einen innerstädtischen Vergleich vor: Indem er die Pariser Marktviertel und die Boulevards einander gegenüberstellt, gewinnen Raum und Zeit eine mehrdimensionale Qualität. Herausragend ist in seinem Bericht zudem die sinnliche Ebene: Sehen und Hören stellt der Korrespondent in seinen Beschreibungen in einen zeitlich dimensionierten Zusammenhang und ordnet sie hierarchisch einzelnen Tageszeiten zu.
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