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Quellensammlung

Raumzeitlichkeit urbaner Muße

Goethe: Rom, den 7. November [1786]: Räumliche Synchronisierung der Kulturgeschichte

„[...] Wenn man so eine Existenz ansieht, die zwei tausend Jahre und darüber alt ist, durch den Wechsel der Zeiten so mannigfaltig und vom Grund aus verändert, und doch noch derselbe Boden, derselbe Berg, ja oft dieselbe Säule und Mauer, und im Volke noch die Spuren des alten Charakters, so wird man ein Mitgenosse der großen Ratschlüsse des Schicksals und so wird es dem Betrachter von Anfang an schwer zu entwickeln, wie Rom auf Rom folgt, und nicht allein das neue auf das alte, sondern die verschiedenen Epochen des alten und neuen selbst auf einander. Ich suche nur erst selber die halbverdeckten Punkte herauszufühlen, dann lassen sich erst die schönen Vorarbeiten recht vollständig nutzen, denn seit dem funfzehnten Jahrhundert, bis auf unsere Tage haben sich treffliche Künstler und Gelehrte, mit diesen Gegenständen, ihr ganzes Leben durch beschäftigt.
Und dieses Ungeheure wirkt ganz ruhig auf uns ein, wenn wir in Rom hin und her eilen, um zu den höchsten Gegenständen zu gelangen. Anderer Orten muß man das Bedeutende aufsuchen, hier werden wir davon überdrängt und überfüllt. Wie man geht und zeigt sich ein landschaftliches Bild aller Art und Weise, Paläste und Ruinen, Gärten und Wildnis, Fernen und Engen, Häuschen, Ställe, Triumphbögen und Säulen, oft alles zusammen so nah, daß es auf ein Blatt gebracht werden könnte. Man müßte mit tausend Griffeln schreiben, was soll hier eine Feder, und dann ist man Abends müde und erschöpft vom Schauen und Staunen.“

Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, hg. v. Christoph Michel/Hans-Georg Dewitz, Berlin 2011, 139.
Kommentar
Der im römischen Stadtbild sichtbare „Wechsel der Zeiten“ an ein und demselben Ort evoziert den Eindruck einer kulturgeschichtlichen Verdichtung, die der Betrachter kaum noch chronologisch zu sortieren vermag. So nimmt er an einschlägigen Erinnerungsorten Roms historische Sedimente, ‚Zeitschichten‘ (Reinhart Koselleck), wahr, die den kulturgeschichtlichen Wandel räumlich synchronisieren. Diese Form von Verdichtung führt zu der ambivalenten Erfahrung einer Gleichzeitigkeit von Ruhe (des Eindrucks) und Eile (bei der Raumerschließung). Die überwältigende Fülle ermüdet den Betrachter beim Besichtigen der Sehenswürdigkeiten, nötigt ihn aber auch zu ruhiger Kontemplation.
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