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Quellensammlung

Raumzeitlichkeit urbaner Muße

Goethe: Venedig, den 30. September [1786]: Flanieren in Venedig

„Gegen Abend verlief ich mich wieder, ohne Führer, in die entferntesten Quartiere der Stadt. Die hiesigen Brücken sind alle mit Treppen angelegt, damit Gondeln und auch wohl größere Schiffe bequem unter den Bogen hinfahren. Ich suchte mich in und aus diesem Labyrinthe zu finden, ohne irgend jemand zu fragen, mich abermals nur nach der Himmelsgegend richtend. Man entwirrt sich wohl endlich, aber es ist ein unglaubliches Gehecke in einander, und meine Manier sich recht sinnlich davon zu überzeugen, die beste. Auch habe ich mir, bis an die letzte bewohnte Spitze, der Einwohner Betragen, Lebensart, Sitte und Wesen gemerkt, in jedem Quartiere sind sie anders beschaffen. Du lieber Gott! was doch der Mensch für ein armes, gutes Tier ist!
Sehr viele Häuserchen stehen unmittelbar in den Kanälen, doch gibt es hie und da schön gepflasterte Steindämme, auf denen man zwischen Wasser, Kirchen und Palästen gar angenehm hin und wider spaziert. Lustig und erfreulich ist der lange Steindamm, an der nördlichen Seite, von welchem die Inseln, besonders Murano, das Venedig im Kleinen, geschaut werden. Die Lagunen dazwischen sind von vielen Gondeln belebt.“

Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, hg. v. Christoph Michel/Hans-Georg Dewitz, Berlin 2011, 75.
Kommentar
Die Stadt, in der das Flanieren in der Italienischen Reise einen besonders großen Stellenwert gewinnt, ist Venedig. Hier wirft sich der Ich-Erzähler immer wieder ins urbane Labyrinth, durchstreift die engen Gassen und verläuft sich in ‚absichtsvoller Absichtslosigkeit‘ (Hans-Georg Soeffner). Er flaniert mit offenen Augen und bringt so viel Zeit mit wie nötig, um alles ganz zwanglos und in Muße zu betrachten. Die Suspension zeitlicher Beschränkung prägt eine intensive Raumerfahrung. Die Reflexivverben ‚sich werfen‘, ‚sich verlaufen‘, ‚sich suchen‘, ‚sich entwirren‘ betonen die Offenheit der nicht zielgerichteten städtischen Spaziergänge; sie charakterisieren die Haltung des Flaneurs und rücken das Objekt, das den Spaziergängen gilt, in den Hintergrund. Im Fokus stehen das Gehen selbst und der durch das Gehen hervorgerufene spezifische Wahrnehmungsmodus. Erst nach diesen anfänglichen freien, ziellosen Erkundungsgängen besorgt sich der Besucher einen Stadtplan.
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