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Quellensammlung

Raumzeitlichkeit urbaner Muße

Goethe: Venedig, den 28. September 1786: Genuss der Einsamkeit in der Menge

„[...] Ich bin gut logiert in der Königin von England, nicht weit vom Markusplatze, und dies ist der größte Vorzug des Quartiers; meine Fenster gehen auf einen schmalen Kanal zwischen hohen Häusern, gleich unter mir eine einbogige Brücke, und gegenüber ein schmales belebtes Gäßchen. So wohne ich und so werde ich eine Zeitlang bleiben, bis mein Paquet für Deutschland fertig ist, und bis ich mich am Bilde dieser Stadt satt gesehen habe. Die Einsamkeit nach der ich oft so sehnsuchtvoll geseufzt, kann ich nun recht genießen, denn nirgends fühlt man sich einsamer als im Gewimmel, wo man sich allen ganz unbekannt durchdrängt. In Venedig kennt mich vielleicht nur Ein Mensch, und der wird mir nicht gleich begegnen.“

Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, hg. v. Christoph Michel/Hans-Georg Dewitz, Berlin 2011, 69.
Kommentar
Lebensformen urbaner Muße oder auch städtischen Müßiggangs beobachtet der Ich-Erzähler der Italienischen Reise in der Mußeform des Verweilens. Beim Eintauchen in die Menge erfährt er Genuss durch seine selbst auferlegte Anonymität, die ihm Unabhängigkeit und Freiheit sichert und damit seine offene Wahrnehmung nicht beeinträchtigt. Gleich bei seiner Ankunft in Venedig formuliert er diese Absicht, die programmatisch die Haltung eines Flaneurs zum Ausdruck bringt.
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